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OHLSDORF - Zeitschrift für Trauerkultur

Die Michaelergruft in Wien

Unter fast jeder alten Kirche befindet sich eine Gruft.

Was macht gerade die Michaelergruft so außergewöhnlich? Es ist einerseits ihre Größe, die beeindruckt – 1800 m3 Raumvolumen, eine Grundfläche von 832 m2, 20 geöffnete Einzelgrüfte – und anderseits die Kulturdenkmäler, die sich darin erhalten haben: 213 Holzsärge, 33 Metallsärge, zwei mit Ziegeln vermauerte Kupfersärge und 23 Mumien mit Resten barocker Kleidung. Doch durch zu hohe Luftfeuchtigkeit sind in den letzten 50 Jahren 8 Särge restlos verschwunden und 25 Särge zerfallen.

Belüftung. Der Friedhof rund um die etwa 1220 erbaute Kirche wurde 1508 auf Gebot Kaiser Maximilians I. geschlossen . Die Toten mussten auf anderen Friedhöfen beerdigt werden, St. Michael verarmte. Daher verlegte man den Friedhof unter die Kirche und begann mit dem Aushub der ersten Gruft (Familiengruft Herberstein) um 1560 und beendete den Gruftausbau mit der außerhalb der Kirche gelegenen 1731 fertig gestellten Maria-Candia-Gruft.

Jede Gruft hatte ihren eigenen Zugang vom Kirchenschiff aus. Die ab 1620 gegrabenen großen Hallengrüfte unter dem Querschiff und Mittelschiff besaßen sogar eigene Treppen; es gibt aber keine Hinweise darauf, dass Verwandte jemals ihre Toten in der Gruft besuchten. Im 18. Jh. herrschte große Angst vor den „Miasmen”, den Verwesungsgerüchen. Daher verschloss man die ehemaligen Grufteingänge in der Michaelerkirche und grub einen Ausgang in den heutigen Pawlatschenhof am Kohlmarkt. Um die Toten von hier in alle Grüfte bringen zu können, durchbrach man Mauern und grub Verbindungsgänge. 1829 wurde schließlich eine Treppe außerhalb der Kirche in die Gruft gegraben; seither hat sich der Grundriss der Michaelergruft nicht mehr verändert.

Als 1784 aus hygienischen Gründen alle Grüfte und Friedhöfe in den Städten auf Anweisung Kaiser Josefs II. geschlossen wurden, vermauerte man auch die meisten Luftschächte der Michaelergruft. Nur über die Treppe und über 3 Schächte in der Maria-Candia-Gruft kam noch Luft herein. Messungen bewiesen, dass es dadurch in der Herrengruft und in der Maria-Candia-Gruft Luftbewegung gab und eines war augenscheinlich: In der Maria-Candia-Gruft waren die am besten erhaltenen Särge und sogar noch zehn Mumien, in der benachbarten Herrengruft elf Mumien. In allen übrigen nicht belüfteten Grüften dagegen gab es nur noch Skelette. Durch die fehlende Belüftung wuchs die Feuchtigkeit, wodurch die Mumien zerfielen und außerdem Pilze und Holzschädlinge gediehen. Eine wichtige restauratorische Maßnahme war daher Belüftung. Man öffnete die vermauerten Luftschächte wieder und baute im Januar 2009 Klappen ein, die durch Messtechnik reguliert werden. Sinkt die Außentemperatur unter zehn Grad, so öffnen sich die Klappen, kalte und trockene Luft strömt in die Gruft.

Rüsselkäfer und Entfeuchtung. Im Frühling 2005 wurde festgestellt, dass der aus Neuseeland eingeschleppte Rüsselkäfer pentarthrum huttoni in rasantem Tempo die Holzsärge zerfraß. Da dieser Käfer hohe Luftfeuchtigkeit und Wärme bevorzugt, wurde im Herbst 2005 eine Kühlungs- und Entfeuchtungsanlage eingebaut. Von mehreren Firmen gesponsert, handelte es sich um ein Provisorium, das nur ein Jahr verwendet werden sollte. Vier Jahre später, im Jahr 2009, läuft dieselbe Anlage noch immer und kühlt die Gruft auf 10 Grad. Die Kälte ließ den Käfer inaktiv werden, doch die relative Luftfeuchtigkeit ist immer noch bei 83%, obwohl in über drei Jahren 60 Tonnen Wasser herausgepumpt wurden. Warum die Gruft so feucht bleibt, konnte nicht geklärt werden.

Mumien und Grabbeigaben. 23 Mumien haben sich erhalten. Es handelt sich dabei um natürliche Mumifizierung; durch den ständigen Luftzug und durch Bettung auf Hobelspänen trockneten die Toten aus. Doch nicht alle Mumien bleiben erhalten, nur weil sie in einem belüfteten Raum liegen. Es gibt Photos aus den 1950er Jahren, die Mumien zeigen – dieselben Toten sind heute jedoch Skelette. Lebewesen wie "Diebskäfer" oder "Staubläuse" spielen hier eine natürliche Rolle. Kleinstlebewesen können Jahrhunderte in Grüften durch das organische Material überleben.

Die Toten in St. Michael tragen noch immer seidene Rüschenkleider und Damastschuhe oder Hemden, Samthosen und Lederschuhe. Die Barockzeit scheint konserviert zu sein. Wer in den Grüften St. Michaels beerdigt wurde, war ein reicher Adeliger oder Bürger. Arme konnten sich diese feudale Begräbnisstätte neben der Hofburg nicht leisten und wurden außerhalb Wiens beerdigt. Durch die teilweise gut erhaltenen Toten lässt sich barocke Geschichte erforschen. Männliche Tote sind mit Perücke beerdigt, weibliche mit Haube. Einige Frauen tragen ähnliche Kleidung mit zwei langen Borten. Ist dies typische Totenkleidung oder war dieses Kleid in den 1760ern in Mode? Die Augen einiger Toter sind mit Kupfernadeln zugesteckt. Handelt es sich hierbei um Aberglauben, ein typisches Wiedergängermotiv? Die Augen der Toten schließen, damit sie ihre Augen nicht mehr öffnen können?

Schmuck wurde in den Särgen nicht gefunden, nur einfache Grabbeigaben wie Kreuz auf der Brust, Andachtsbildchen und Rosenkränze. Als Zeichen der Zugehörigkeit zu einer Gürtelbruderschaft sind viele Körper oder Arme mit einem Lederriemen umschlungen. Bruderschaften sorgten für ihre kranken Mitglieder und kümmerten sich besonders um ein ordentliches Begräbnis. Aus Rosmarin geflochtene Totenkränze wurden unverheiratet verstorbenen Männern wie Frauen in den Sarg gelegt.

Einzigartig ist der Fund einer kupfernen Totenkrone in Chenille-Technik. Über den Kopf des Toten war ein Leintuch gespannt, das das Gesicht bedeckte, darüber wurde die 30 cm im Durchmesser und etwa 13 cm hohe Krone gelegt. Berührend war auch der Fund im Sarg 42, in dem eine 1765 verstorbene Frau ruht. Darin war eine Spanschachtel mit Myrtenkranz und erklärender Inschrift "Brauth Kranz d: anno 1748 Mens: Maj: die 23".

Holzsärge. Die barocken Holzsärge sind meist mit Vergänglichkeitsmotiven wie Totenköpfen, gekreuzten Knochen, Sanduhren oder verlöschenden Kerzen bemalt. Obwohl 4000 Tote in St. Michael beerdigt wurden, nahm die Zahl der Särge rasant ab: Im 19. Jh. zählte man über 400 , 1923 noch 256, 1951 nur noch 221, heute 213. Schuld war einerseits die Feuchtigkeit und der Rüsselkäfer, anderseits der Platzmangel. Man beerdigte ab 1630 jährlich durchschnittlich 27 Personen; je kleiner eine Gruft war, desto schneller war sie mit Särgen angefüllt. Vier Kirchendiener erhielten dann den Auftrag, die volle Gruft zu räumen. Die Särge wurden mit Sand und Lehm im Boden eingestampft. Durch Grabungen weiß man, dass die Große Pfarrgruft im Lauf ihres Bestehens zweimal geräumt wurde. Die heute noch erhaltenen Särge stammen aus der Zeit von etwa 1740 bis 1784 und zeigen typische Rokokoformen wie Rocaillen. Manche Särge sind mit Blumen und Engeln bemalt, sogar Totenköpfe und ein Blumenkranz sind zu finden. Aufgemalte Knochen sind mit Schleifen zusammengebunden. Der einzige Intarsiensarg, ein Nussholzsarg von Maria Barbara von Schmid, gestorben 1740, ist in nur 4 Jahren völlig vom Rüsselkäfer zerfressen worden.

Metallsärge. Auch im Tod wollte man dem Kaiserhof nahe sein und mit prunkvollen Grabdenkmälern im Kirchenschiff und in der Gruft die Macht der Familie demonstrieren. Auf den Metallsärgen vereint sich weltliche Macht (Löwenpranken als Zeichen der kriegerischen Stärke) mit christlichen Symbolen (Marienfiguren, Engelsköpfe). "Wappen weisen den Verstorbenen als Glied einer langen Kette ‚wohlgeborener‘ Vorfahren aus. Jenseits der Vergänglichkeit des Individuums veranschaulichen sie die Dauer des Adelsgeschlechts."

Metallsärge
Metallsärge in der Michaelergruft in Wien.
Foto: A. Rainer

Von den 33 Metallsärgen bestehen 13 aus Zinn und 20 aus Kupfer. Dazu kommen zwei weitere Kupfersärge, die mit Ziegeln eingemauert wurden. Da diese Ziegel aus dem frühen 18. Jh. stammen, könnten die beiden vermauerten Särge tatsächlich Pestgräber von 1713 sein, was nur weitere Forschung beweisen kann.

Unter der verstaubten Oberfläche der Kupfersärge erschien nach Proberestaurierungen bunte Malerei mit Wappen und Inschriften. Da Zinn ein weiches Metall ist, sind viele Särge durch das Gewicht der Deckel eingesunken. Sechs Renaissancesärge befinden sich in der Mollard- und Trautson-Gruft, der älteste stammt von 1589. In den Metallsärgen sind Innensärge aus Holz, worin die Toten auf Hobelspänen ruhen. Viele dieser Prunksärge wurden wahrscheinlich schon im 19. Jh. aufgebrochen, doch gibt es immer noch intakte, niemals geöffnete Särge.

Der Pfarrer der Michaelerkirche, Pater Peter van Meijl schrieb: "Die Gruft nur als ‚Todesstätte’ zu betrachten ist einseitig und gegen das Leben. Die Gruft ist mehr. Sie ist eine ‚Lebensstätte’. Sie ist lebensbejahend. Denn in der Gruft wird man betroffen, ob man will oder nicht. Nicht nur vom Leben und Sterben unserer Vorfahren, sondern auch vom eigenen Leben und vom bevorstehenden Tod. Betroffenheit kann nur stattfinden, wenn Ehrfurcht stattfindet und leise gefördert wird. Die Michaelergruft muss gerettet werden, damit die Ehrfurcht vor dem Leben und dem Sterben, vor den Lebenden und den Verstorbenen gerettet wird."

Anschrift der Autorin: Dr. Alexandra Rainer, Pastorstr. 27 / 13 / 4, 1210 Wien, Österreich

Auflistung alle Artikel aus dem Themenheft Neuzeitliche Gruftanlagen (November 2009).
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