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OHLSDORF - Zeitschrift für Trauerkultur

Das Gruftgewölbe unter St. Michaelis in Hamburg

Die Gruft unter Hamburgs Wahrzeichen, dem "Michel", ist eine weltweit einzigartige Anlage von außerordentlichen Dimensionen.

Nachdem im Jahre 1750 die alte Michaeliskirche abgebrannt war, schlug der Baumeister Ernst Georg Sonnin für den Neubau vor, flächendeckend unter der Kirche ein Gewölbe anzulegen und unter deren Fußboden gleichförmige Grabkammern einzubauen. Insgesamt sind 268 Kammern unterhalb eines begehbaren Kellerbereiches entstanden. Man erhoffte, durch die Gebühren, die für eine 15-, 20-, 30-, 50- oder 100-jährige Ruhezeit anfielen, die Finanzierung des Kirchenbaus und den späteren Betrieb sicherzustellen. Im Jahre 1770 war diese großzügige Bestattungsanlage fertiggestellt; bestattet wurde hier aber schon seit 1762. Während der französischen Besatzung verbot ein Befehl Napoleons bereits im Jahre 1813 die Bestattungen in der Michelgruft. Dennoch wurden bis 1817 noch 108 Personen in der Gruft beigesetzt, so dass insgesamt eine Anzahl von mindestens 2121 Bestatteten registriert ist. Hinzu kommen noch zahlreiche nichtregistrierte Bestattungen der Ämter, Bruderschaften und Sterbekassen. Aus diesem Sachverhalt wird deutlich, dass, anders als in anderen neuzeitlichen Gruftanlagen, die allein den sozial höherstehenden Schichten vorbehalten waren, in diesem Gruftgewölbe auch Handwerker, Händler oder Seeleute ihre letzte Ruhestätte fanden. Aufgrund von Sanierungs- und Sicherungsarbeiten am Baukörper der Kirche war es nötig, einen Teil der Grabkammern zu öffnen. Bei dieser Gelegenheit wurden von 2004 bis 2008 die Inhalte von 61 Kammern archäologisch dokumentiert. Den Fußboden des Gruftgewölbes bilden die Grabplatten aus Sandstein. Unterhalb dieser Grabplatten befinden sich die Kammern, die bis zu 4 m in den Erdboden hinunter reichen. Nach den Plänen des Kirchenbaumeisters Faulwasser sind in den Fußböden Ausnehmungen von deutlich geringeren Ausmessungen als die Kammergrundrisse vorhanden. Diese dürften zum Auffangen der Leichenflüssigkeit und damit zu einer besseren Austrocknung der Bestattungen gedient haben. Bisher konnte erst eine dieser Ausnehmungen dokumentiert werden, die sich als ovales Loch in der Mitte des Kammerbodens zeigte (Abb.1).

Abb. 1
Abb. 1: Blick in eine leere Kammer mit ovaler Ausnehmung im Fußboden

Die Kammerinhalte und deren Erhaltungszustände sind sehr unterschiedlich. So sind in manchen Kammern vollständig intakte und geschlossene Särge enthalten, in anderen wiederum gibt es Särge, die teilweise zusammengefallen sind. In den meisten Fällen jedoch sind die Särge komplett zerfallen, so dass nur einzelne Bretter oder auch nur Brettfragmente erhalten sind. Daneben gibt es auch Sammelkammern mit Gebeinen oder Sargbestandteilen. Die Grabkammern wurden nach Ablauf der Ruhezeit oder bei Verkauf "gereinigt", d.h. die sterblichen Überreste entnommen und in eigens dafür vorgesehene Kammern umgebettet.

Um einen Sarg in eine Kammer einzubringen, wurden die Grabplatten angehoben und der Sarg waagerecht auf den Fußboden oder auf bereits vorhandene Särge abgestellt. In der Regel stehen zwei Särge nebeneinander und wegen der geringen Breite der Kammern in entgegengesetzter Ausrichtung. In die Kammern am Rand des Gruftgewölbes reichen die Fundamente des Kirchenbaus hinein, sodass ein waagerechtes Abstellen der Särge hier nicht möglich war. Zumindest in einem Fall konnte ein hölzerner Einbau nachgewiesen werden, der die horizontale Lagerung der Särge ermöglichte (Abb. 2).

Abb. 2
Abb. 2: Rekonstruktionsskizze des hölzernen Einbaus

Auffällig bei den Formen der Hamburger Särge ist, dass es sich ausschließlich um die traditionell barocke Form der Dachtruhe handelt. Dachtruhensärge haben senkrechte Kopf- und Fußseiten und unprofilierte Seitenwangen. Diese sind jeweils schräg angebracht, sodass diese Särge einen sechseckigen Querschnitt haben.

Die meisten der beobachteten Särge sind von außen mit schwarzem Stoff, der in einem Fall als ein fein gewebtes Wolltuch identifiziert werden konnte, bespannt und durch Raffen des Stoffes sowie zusätzlicher textiler Draperie aufwendig verziert. Hinzu kommen Troddeln, Rosetten und Fransenborten (Abb. 3).

Abb. 3
Abb. 3: Rekonstruktionszeichnung eines mit textiler Draperie versehenen Sarges

Ferner sind bei vielen Särgen auf die Außenkanten schmale textile Samt- oder Seidenbänder als Randabschluss und Kantenzier genagelt worden. Nur wenige Särge sind furniert oder schlicht mit schwarzer Farbe bemalt. Auffällig ist, dass offenbar die meisten Särge mit Seilgriffen statt mit Metallgriffen ausgestattet wurden. Dies ist bisher nur aus zwei anderen Gruftanlagen bekannt.

Vermutlich aus einer Zinn-Blei-Legierung wurden die vielfältigen Sargbeschläge gegossen, die teils rein zierenden, teils symbolischen Charakter haben. Die meisten Beschläge haben gerade in der Sepulkralkultur eine tiefere Bedeutung, auch wenn nicht auszuschließen ist, dass sich diese Elemente im Laufe der Zeit verselbstständigten und ihr Symbolgehalt nicht mehr unbedingt bewusst wahrgenommen wurde. Unter den Sargbeschlägen überwiegen antikisierende Motive mit sepulkralem Charakter. Kruzifixe auf Särgen mit oder ohne Christusfigur sind als rein christliche Symbole anzusprechen und sind seit dem Mittelalter in unterschiedlicher Machart als religiöser Sargschmuck belegt. Eine Besonderheit sind große Kronen, die wahrscheinlich auf dem Kopfende des Sargdeckels gestanden haben. Bislang sind solche Kronen nur im adeligen Kontext auf Särgen zu finden. Hervorzuheben ist auch der singuläre Fund eines Schmetterlings, der mittels eines spiralförmigen Drahtes beweglich vermutlich auf einem Sargdeckel befestigt war. Der Schmetterling ist seit der Antike ein Symbol für die entfliehende Seele (Abb. 4).

Abb. 4
Abb. 4: Beweglicher Schmetterling aus Weichmetall - Symbol für die entfliehende Seele

Inschriftenbleche sind sowohl noch auf den Särgen selbst als auch in den Kammern verstreut zu finden. Ovale und trapezförmige Bleche sind die häufigsten Formen; gelegentlich kommen Bleche in Form einer Schriftrolle vor.

Die Verstorbenen selbst wurden im Sarg auf einer Polsterung aus Hobelspänen gebettet, die mit Stoff bezogen ist. In einigen Fällen sind diese textilen Ausstattungsstücke sehr gut erhalten, wobei Seide am besten erhalten ist. Die Totenkleidung war in vier Särgen zu erkennen. Die Gewänder erinnern an Nachthemden, was einen Bezug zur Bettung zum ewigen Schlaf nahelegt. Außerdem tragen die Bestatteten Kopfbedeckungen, die ebenfalls an Nachtwäsche erinnern. Die beiden Männer tragen Mützen, die spitz nach oben hin zusammenlaufen – Zipfelmützen, die als Haus- oder Schlafmützen getragen wurden. Die Hauben der beiden Frauen dagegen passen sich der Kopfform an.

Beigaben sind bis auf einen Kamm bisher nicht beobachtet worden. Grabbeigaben spielen in der religiösen Vorstellung des Christentums eigentlich keine Rolle, weil die Seele im Jenseits keine materiellen Bedürfnisse hat und der Verstorbene sich nicht, wie nach heidnischem Glauben, mehr oder weniger körperlich auf die Reise in eine jenseitige Welt begibt. Trotzdem finden sich in christlichen Gräbern immer wieder Dinge, die dem Toten bewusst mitgegeben wurden. Die Beweggründe dafür sind vielschichtig, wobei Prestige, Aberglaube, Brauchtum und emotionale Nähe zum Verstorbenen eine wesentliche Rolle gespielt haben dürften. So rührt der hier gefundene Kamm wohl aus dem Aberglauben her, dass Dinge, die zur Herrichtung des Leichnams, hier zum letzten Kämmen der Haare, genutzt worden waren, aus der Welt der Lebenden entfernt wurden, um Unheil abzuwenden.

Nach den Sanierungsarbeiten und den Untersuchungen wurden die Kammern verschlossen und das Gruftgewölbe renoviert. Hier finden nun wieder Gottesdienste, Ausstellungen und Veranstaltungen statt. Eine kleine Ausstellung zur Geschichte des Gruftgewölbes und über die archäologische Dokumentation ist in Vorbereitung.

Auflistung alle Artikel aus dem Themenheft Neuzeitliche Gruftanlagen (November 2009).
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