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OHLSDORF - Zeitschrift für Trauerkultur

Sturmflut, Tod und maritime Erinnerungskultur

An der Nordseeküste waren es vor allem die großen Sturmflutkatastrophen, die zu tragischen Erfahrungen wurden und historische Zäsuren markierten.

Leidens- und Überlebenserfahrung prägten die maritime Mentalität. Die küstenspezifischen Erfahrungen von Tod und Trauer wurden – neben den Sturmfluten – auch hervorgerufen durch Schiffbrüche sowie der generell bedrohlichen Unberechenbarkeit des Wassers in einer Gegend, die von extremen Natureinflüssen geprägt worden ist.

Die ersten Nachrichten über Flutkatastrophen an der Nordsee stammen bereits aus dem 1. Jahrhundert unserer Zeitrechnung, und zwar von dem in Germanien stationierten römischen Offizier und Geschichtsschreiber Plinius dem Älteren (23/24-79 n. Chr.). Für die gleiche Zeit vermerkte auch der griechische Historiker Cassius Dio eine Sturmflutkatastrophe, die sich rund 60 Jahre nach Christi Geburt ereignet haben soll. Eine friesische Chronik berichtet von einer "gewaltigen Überschwemmung Frieslands" im Jahre 516 n. Chr. mit über 6.000 Toten. Allerdings sind solche Zahlenangaben bis in die Neuzeit hinein nicht überprüfbar und eher als genereller Hinweis auf das Ausmaß einer Katastrophe denn als exakte statistische Angabe zu verstehen.

Auch im weiteren Verlauf des Mittelalters verheerten Sturmflutkatastrophen die Nordseeküste und veränderten die Küstenlinien. Der Historiker Kay Peter Jankrift hat sie in seinem Buch über Katastrophen im Mittelalter sorgsam verzeichnet. Er schreibt: "Unabhängig davon, ob sich für diese Zeit [des 9. bis 12. Jahrhunderts] eine Phase der Meeresspiegelerhöhung feststellen läßt, steht fest, daß die Küstenbewohner in unregelmäßigen Abständen weiterhin von Überschwemmungskatastrophen heimgesucht wurden." Genannt werden u.a. die erste schwere Sturmflut des 11. Jahrhunderts, die im September 1014 die Nordseeküste heimsuchte, dann die große "Julianenflut" vom 17. Februar 1164. Legendär wurden ebenfalls die "Marcellusflut" von 1219, die "Luciaflut" vom 1. Januar 1287 und natürlich die zweite "Marcellusflut" vom 16. Januar 1362, auch als "Große Mandränke" bekannt und mythologisch mit der Sage vom Untergang Rungholts verbunden. Der schleswig-holsteinische Dichter Detlev von Liliencron widmete bekanntlich diesem Ereignis Jahrhunderte später, nämlich 1882, sein sprichwörtlich gewordenes Poem "Trutz Blanke Hans", das zum Sturmflut-Gedicht schlechthin wurde.

Machen wir einen Sprung in die frühe Neuzeit. Das 17. Jahrhundert wurde als "Jahrhundert der Sturmfluten" bekannt. Beispielhaft genannt sei die "Zweite Mandränke" vom 11. Oktober 1634. Sie führte zum Untergang von großen Teilen der einstigen nordfriesischen Inseln Strand (Rungholt-Bucht) sowie der Halligen Nieland und Nübel. Seit 1634 sind zudem Nordstrand und Pellworm getrennte Inseln. Im frühen 18. Jahrhundert verheerte die so genannte "Weihnachtsflut" von 1717 die Nordseeküste und sorgte dafür, dass viele Ländereien teilweise monate- und jahrelang überschwemmt blieben. Eine weitere Katastrophenflut, die an der gesamten deutschen Nordseeküste verheerende Schäden anrichtete, ereignete sich am 3./4. Februar 1825. Die Sturmflut 1962 wurde dann die erste wirklich verheerende Katastrophe seit 1825. Nach den Deichverstärkungen im 19. Jahrhundert hatte man sich an der Küste weitgehend sicher gefühlt – und die Hollandflut 1953 erschien in der Öffentlichkeit vielleicht doch fern genug, um eine konkrete Bedrohung wahrzunehmen. Umso mehr wirkten die Ereignisse vom Februar 1962 inmitten des westdeutschen "Wirtschaftswunders" als Schock.

Zugleich bot diese Sturmflutkatastrophe den Anlass, über entsprechende Memorials nachzusinnen. Staatlicherseits glaubte man nun, die Bedrohlichkeit des Wassers der Öffentlichkeit besser vermitteln zu müssen. In einem Anfang 1963 publizierten Aufsatz regte der im Kieler Landesamt für Wasserwirtschaft tätige Oberregierungsbaurat Rodloff an, an allen wasserbautechnischen Anlagen spezielle Hochwassermarken und in der freien Landschaft Mahnmale zu setzen. Wörtlich führte er aus: "Um der Bevölkerung ständig vor Augen zu führen, welche Hochwassergefahren für jeden bestehen, sollten Hochwassermarken [i. Orig. hervorgehoben] an jedem Siel, an jeder Stöpe [Deichdurchfahrt] und gelegentlich an Hauswänden angebracht und an besonders markanten Punkten der bedrohten Marschniederungen freistehende, für jedermann sichtbare künstlerisch gestaltete Mahnmale [i. Orig. hervorgehoben] aufgestellt werden. Sie erinnern an die dauernd bestehende Sturmflutgefahr und tragen dazu bei, die Bereitschaft für die großen Aufgaben der Wasserwehr stets wach zu halten. Sie werden eine besondere Wirkung erzielen, wenn es gelingt, neben dem Wasserstand auch die Wellenauflaufhöhe einprägsam und eindringlich darzustellen."

Bremerhaven
Sturmflut-Memorial Bremerhaven
Foto: Norbert Fischer

Heute gibt es an vielen Küstenorten Memorials, die an Sturmflutkatastrophen erinnern – auch wenn sie mit der oben geschilderten Idee nichts mehr gemein haben.

Cappel-Neufeld
Cappel-Neufeld im Land Wursten
Foto: Norbert Fischer

Es sind zumeist Steine, Pfähle oder Tafeln, die die Jahresdaten nennen. Manchmal meterhoch an zentralen Plätzen aufragend, sind sie in Dorumersiel (Land Wursten) ebenso zu finden wie in Neuharlingersiel (Ostfriesland), am Husumer, Tönninger und Büsumer Hafen, am alten Seenotrettungsschuppen in Fedderwardersiel (Butjadingen) sowie auf den Inseln und Halligen.

Osten
Osten an der Oste
Foto: Norbert Fischer

In einigen Fällen werden auch einzelne Sturmfluttragödien und ihre Folgen thematisiert, etwa eine untergegangene Kirche: Auf Nordstrand wurde an der Lith-Schleuse ein Sandstein-Relief angebracht, das an den Standort der ehemaligen Lith-Kirche erinnert. Die Inschrift lautet: "An dieser Stätte stand bis 1634 die Lith-Kirche" sowie am unteren Rand "Neues Leben blüht aus den Ruinen" – Erinnerung an die Burchardi-Sturmflut 1634, bei der das Kirchspiel Lith unterging. Nicht von der Form, aber vom Inhalt her vergleichbar ist das fünf Meter hohe, aus hölzernen Dalben geformte Memorial, das weithin sichtbar auf dem Ordinger Strand steht (Eiderstedt). Es markiert den ehemaligen Standort der Ordinger Kirche, die von den Meeresfluten bedroht wurde und deswegen ins Landesinnere zurückverlegt werden musste.

Auch an den gezeitenabhängigen Strömen wie der Elbe wurden Sturmflut-Gedenksteine neu errichtet: so in Assel (Land Kehdingen) – er ist der Sturmflut von 1962 gewidmet. In Altenbruch (bei Cuxhaven) erinnern kleine Gedenksteine, die in die Strandtreppe eingelassen wurden, an 1962 und andere Sturmflutkatastrophen. Zusammen genommen bilden die Memorials ein faszinierendes Ensemble küstenspezifischer "Erinnerungsorte", dank derer die Vergangenheit am Meer noch immer höchst gegenwärtig ist.

Der vorliegende Artikel basiert auf folgender Literatur:

Norbert Fischer: Gedächtnislandschaft Nordseeküste: Inszenierungen des maritimen Todes. In: Norbert Fischer/Susan Müller-Wusterwitz/Brigitta Schmidt-Lauber (Hg.): Inszenierungen der Küste. Berlin 2007, S. 150-183.

Norbert Fischer: Im Antlitz der Nordsee – Zur Geschichte der Deiche in Hadeln. Stade 2007.

Auflistung alle Artikel aus dem Themenheft Katastrophen und Unglücksfälle (Mai 2009).
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