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OHLSDORF - Zeitschrift für Trauerkultur

Der Untergang der "Primus"

Der Raddampfer "Primus" fuhr um 1900 auf der Elbe als Ausflugsdampfer. Er war schon 1839 in Dienst gestellt worden und für insgesamt 172 Passagiere zugelassen. Für den 21. Juli 1902 hatte ihn die Liedertafel "Treue von 1887 zu Eilbeck" für ihren Sommerausflug nach Cranz gebucht.

Der sozialdemokratische Arbeitersängerverein feierte in diesem Jahr sein zwanzigjähriges Bestehen und die Sänger wollten zusammen mit ihren Familien und Freunden das Jubiläum begehen.

Es waren die kleinen Leute aus dem Hamburger Stadtteil Eilbek, die sich in diesem Gesangsverein unter dem Dach der Sozialdemokratischen Partei zusammengefunden hatten. Gemeinsam pflegten sie das proletarische Liedgut. Zur Feier des Tages wurden sie auf dem Schiff sogar von einer kleinen Kapelle begleitet. Auch einige sozialdemokratische Parteifunktionäre nahmen an dem fröhlichen Ausflug teil. Wer allerdings in Eilbek Rang und Namen hatte, traf sich anderswo. Das betuchte Bürgertum war im "Eilbecker Bürgerverein" zu finden, während die Handwerker sich im "Verein Hamburger Bürger zu Eilbeck" trafen.

Spät in der Nacht fuhr das Schiff, das mit rund 200 Passagieren deutlich überladen war, zurück nach Hamburg. Kurz nach Mitternacht passierten sie Nienstedten, als plötzlich der Hadag-Schlepper "Hansa" aus der Dunkelheit auftauchte und den Raddampfer rammte. Dramatische Szenen spielten sich ab. So konnte der 19-jährige Kellner Emil Eberhardt noch fünf Menschen in Sicherheit bringen. Doch als er weitere Kinder retten wollte, ertrank er selbst in den Fluten. Schon dreizehn Minuten nach dem Zusammenstoß sank die "Primus" auf den Grund der Elbe. 101 Menschen fanden den Tod.

Das Seeamt Hamburg untersuchte bald danach die Katastrophe und kam zu dem Schluss, dass Kapitän Peters, der Schiffsführer der "Primus", den Unfall verschuldet hatte, weil er auf der falschen Seite des Fahrwassers fuhr und nicht genug auf entgegenkommende Lichter aufgepasst hatte.

Die Erschütterung über das Unglück war im ganzen Deutschen Reich zu spüren. Besonders die Eilbeker Bürger schlossen sich über alle sozialen Grenzen hinweg zusammen und gründeten eine Stiftung für die Opfer der Schiffskatastrophe. Nach drei Monaten waren schon mehr als 267.000 Mark zusammen gekommen. Überall wurden Veranstaltungen zu Gunsten der Geschädigten durchgeführt.

78 Tote wurden auf dem Ohlsdorfer Friedhof in einem gemeinsamen Grab bestattet. Über hunderttausend Menschen, zumeist mit roten SPD-Fahnen, säumten die Straßen, als ein Trauerzug durch die Stadt zog, der zugleich zu einer Machtdemonstration der erstarkenden Sozialdemokratie wurde. Der sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete aus Altona begleitete den Zug zusammen mit dem Eilbeker Pastor auf den Friedhof. Dreißig Jahre lang veranstaltete die SPD am Jahrestag des Unglücks eine Trauerfeier vor dem Gemeinschaftsgrab. Erst durch den Nationalsozialismus wurden diese Gedenkfeiern unterbunden. Hundert Jahre später wurde dann noch einmal auf dem Ohlsdorfer Friedhof öffentlich an die Opfer der Primuskatastrophe erinnert.

Den Schmuck der gemeinsamen Grabstätte entwarf der Friedhofsdirektor Wilhelm Cordes. Er vermied sorgfältig jeden Hinweis auf die sozialdemokratische Gesinnung der Bestatteten und lehnte sich in Form und Gestaltung an die Erinnerungsmale der zeitgenössischen bürgerlichen Grabmalgestaltung an: In der Mitte der Grabstätte steht auf einem roten Sandsteinsockel eine Christusfigur aus weißem Marmor. Die vier Seiten des Sockels tragen Bronzetafeln mit den Inschriften:

"Durch Zusammenstoß der / "Hansa" mit dem "Primus" / fanden in der Nacht vom / 20. auf den 21. Juli 1902 / auf der Elbe bei Nienstedten / 101 Personen / Mitglieder und Freunde der / Liedertafel "Treue von 1887" / zu Eilbeck / ihren Tod in den Fluten." –– "Bi’t Unglück an de Waterkant,/ Da geev dat nich meer Nam’ / Un Stand. / Een Nood, een Dood, / Een Grav, een Leev, / Ganz Hamborg stün tosam’n / Un geev." –– "Ihr, die ihr Frieden begehrt, / scheut nicht die Schrecken / des Todes / Über dem Grabe steht er / der euch den Frieden gewährt. / Joh. 14 v. 27" –– "Unter der Teilnahme der / gesammten Bevölkerung / Hamburgs wurden von / den 99 geborgenen Opfern / der "Primus"-Katastrophe / durch den Hülfsausschuss / achtundsiebenzig / auf diesem Platze bestattet. / Es blieben vermißt: / Ad. Geißler geb. 23. Nov. 1878 / u. Luise Lipp geb. 10. Mai 1897"

Havarie


Darstellung der Havarie der "Hansa", links, und des Dampfers "Primus", rechts, auf einer der bronzenen Grabplatten
Foto: Barbara Leisner

Auf den einzelnen Grabstellen liegen kleinen Kissensteine mit Bronzeplatten. Sie tragen die Namen und Lebensdaten der Verstorbenen sowie kleine Reliefs in der Form von Puttenköpfen, Tauben mit Zweigen und Blumen und auch mit der Szene der beiden Schiffe kurz vor dem Zusammenstoß.

Vier der Ertrunkenen wurden auf dem Nienstedtener Friedhof beigesetzt. Emil Eberhardt, der fünf Menschen rettete, wurde auf Postkarten und in Liedern verewigt. An ihn und an die Unglücksnacht erinnert eine schlichte Gedenktafel am Elbuferwanderweg unterhalb von Nienstedten. Auch Ansichtskarten von der Grabstätte wurden verschickt und zeigen, dass schon damals das Beet um die Christusfigur mit Blumen bepflanzt war.

Literaturhinweis:

Günther Severin / Karl-Heinz Meier, Primus-Katastrophe, 22.7.1902: Material zur Ausstellung in der Friedenskirche Hamburg-Eilbek, Hamburg 2002

Karl-Heinz Meier, Die "Primus"-Katastrophe: Dokumentation einer Tragödie. Erfurt 2007.

Auflistung alle Artikel aus dem Themenheft Katastrophen und Unglücksfälle (Mai 2009).
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