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OHLSDORF - Zeitschrift für Trauerkultur

Die Dichterecke auf dem Ohlsdorfer Friedhof

"Nicht weit von den Schienensträngen der Stadtbahn, in der nordwestlichsten Ecke des Friedhofs, dort, wo die Talstraße sich in einen kleinen, schmalen Pfad verliert, gibt es ein Fleckchen Erde, das in seiner Schönheit und Unberührtheit jeden Besucher besonders fesselt."

So leitet Alfred Aust in seinem 1953 erschienenen Friedhofsführer einen Besuch der "Dichterecke" ein. Dem Verfasser liegt damit ein erster schriftlich dokumentierter Hinweis auf die später immer wieder gern verwendete volkstümliche Ortsbezeichnung vor.

Das noch heute idyllisch gelegene Fleckchen Erde gehörte einst zur Gemarkung Klein Borstel, die ab 1904 als nördliche Friedhofserweiterung hergerichtet wurde. Geschickt ließ der Friedhofsdirektor Wilhelm Cordes diesen Bereich landschaftlich gestalten. Schönheit und Funktion verschmolzen dabei zu einer Einheit: Damit das überschüssige Wasser des ebenfalls künstlich in der Niederung des "Faulen Moores" geschaffenen Nordteiches ablaufen konnte, führte er es nach Westen über einen Bachlauf in eine künstliche Bodenvertiefung. Hier sollte es versickern. Mit dem Aushub des Teiches am Ende des Baches wurde der angrenzende Hügel geformt. Er prägt immer noch die Friedhofslandschaft und der sandige Boden erfüllt die Aufgabe der Versickerung auch heute noch, ließ vormals aber auch die Bepflanzung mit Heide zu. Ein Friedhofsführer aus dem Jahr 1914 bezeichnete das sich dort anstauende Wasser als Heideteich und noch in 1950er-Jahren war die Dichterecke friedhofsintern auch unter der Ortsbezeichnung Heideloch und Heidehügel bekannt.

Die ersten hier beigesetzten niederdeutschen Dichter und Schriftsteller waren der 1926 aus dem Kapellenbereich 6 (AE 29) nach hierher umgebettete, aber schon 1906 verstorbene Fritz Stavenhagen, sowie der ebenfalls umgebettete Robert Garbe. Mit der Umbettung der Beiden sollte hier vermutlich ab 1928 ganz offiziell ein besonderes Grabfeld für niederdeutsche Schriftsteller geschaffenen werden, was noch zu verifizieren wäre. Denn es folgten 1947 Richard Ohnsorg, der Begründer der Niederdeutschen Bühne, und 1948 Wolfgang Borchert, der hamburgische Dichter und Schriftsteller der Nachkriegszeit schlechthin. (Er schrieb zwar nicht niederdeutsch, aber die Nähe zu Gräbern Niederdeutscher, zu Literaten seiner Heimat, ist ein angemessener Platz.) Die hier beigesetzten Persönlichkeiten waren es wohl, die in den 1950er-Jahren im Sprachgebrauch die volkstümliche Bezeichnung Dichterecke aufkommen ließen. Ihre Gräber sind daher auch entwicklungsgeschichtlich für diesen Bereich des Friedhofs von Bedeutung. Ihre Lebensbilder werden daher nachfolgend kurz vorgestellt.

Fritz Stavenhagen (1877–1906) galt als Bahnbrecher und Wegbereiter des plattdeutschen Dramas. Vermutlich auch deshalb erhielt sein Grab zwanzig Jahre nach seinem Tod einen anderen, aber exponierten Platz auf dem Hügel der späteren Dichterecke. Laut Protokoll der Friedhofsdeputation vom 4.1.1927 wurde es dann als Ehrengrab geführt und das Verfügungsrecht der Friedhofsverwaltung übertragen. Das bemerkenswerte Grabdenkmal schuf der Bildhauer Paul Hamann (1891–1973), ein damals nicht unbekannter Bildhauer und 1919 Mitbegründer der Künstlervereinigung "Hamburger Sezession": Auf der Vorderseite eines hochrechteckigen Quaders, gemauert aus Klinkern, prangt eine Bronzeplatte mit seinem bekannten Porträt mit Hut und Brille, darunter sein Name. Um es verwirklichen zu können, hatte der Verein "Quickborn", eine Vereinigung von Freunden der niederdeutschen Sprache und Literatur, zu Spenden aufgerufen. Anlässlich des Abschlusses des 2. Niederdeutschen Bühnentages am 3.10.1926 wurde das Denkmal feierlich an die Stavenhagen-Gesellschaft übergeben.

Stavenhagens Leben war kurz. Die Aufführungen seiner Dramen brachten ihm zwar allgemeine Anerkennung ein, aber leider nur wenig finanziellen Erfolg. In einem Nachruf schrieb der etwas jüngere niederdeutsche Schriftsteller Hermann Quistorf einleitend dazu:

…He harr jüst den Posten as Dramaturg ant Schillertheater in Altona kregen; he seeg enen Weg rut ut de Nood von sien Lewen; do würr he upt Krankenbett smeten un stürw een poor Daag na de Operatschoon. Uns Höpen weer tweibraken; de eerst plattdütsche Speeldichter weer nich meer.

Der Volksschullehrer Robert Garbe (1878–1927) gehört mit seinen Gedichten zu den Klassikern der niederdeutschen Lyrik, der Nachwelt erhalten in den Gedichtbänden "Upkwalm" und "Görnrik". Die meisten seiner Gedichte blieben jedoch unveröffentlicht. Den Spruch in erhabener Schrift an seiner zwei Meter hohen Grabstele aus Muschelkalk hat er selbst verfasst. Er klingt wie ein Vermächtnis und lautet:

Dichter von uns Heimat,
Strider för uns Spraak,
fünn dien leed in Lengen und Liden to Gott.
Achter de Wulken de Sünn,
achter de Dingen Gott!
Wullt sülm di nich dregen, nimm em to egen.

Sein Grab ist an der kleinen Brücke, etwas verdeckt zwischen Rhododendron, zu finden. Garbe war zunächst in AF 11 an der Straße Westring begraben und ein Jahr später im Januar 1928 hierher umgebettet worden. Dem Grabprotokoll ist zu entnehmen, dass die Friedhofsdeputation das Grab kostenfrei überlassen hat und es als Ehrengrab bezeichnet wird.

Gegenüber dem Treppenaufgang zur Grabstätte Stavenhagen fällt der dunkle Grabstein von Richard Ohnsorg (1876–1947) auf. Im kreisrunden Kopfstück des Steines sind zwei sich kreuzende, zugewandte Pferdeköpfe und darüber das Hamburger Wappen aus dem Stein leicht herausgearbeitet, flankiert von den Buchstaben N und B für Niederdeutsche Bühne. Darunter ist ein Leitspruch seines arbeitsreichen Lebens zu lesen:

Hollt fast! Hollt fast! Denn geiht dat klor, denn lewt uns Sprok noch dusend Johr!

So wie Stavenhagen als Wegbereiter und Bahnbrecher für das niederdeutsche Drama galt, ist Ohnsorg als Begründer der niederdeutschen Bühnenbewegung und als Förderer niederdeutscher Schriftsteller seiner Zeit zu werten. Neben seiner Tätigkeit als Bibliothekar der Öffentlichen Bücherhallen in Hamburg gründete er 1902 die "Gesellschaft für dramatische Kunst", aus der sich 1919 die "Niederdeutsche Bühne" entwickelte. Als Direktor und Schauspieler zugleich zog er mit seiner Truppe von Theater zu Theater. 1936, nunmehr pensioniert, erwarb er in der Kaisergalerie an den Großen Bleichen 23 als ständige Spielstätte "Das Kleine Lustspielhaus", das seit 1945 seinen Namen trägt: Ohnsorg-Theater.

Am nördlichen Fuß des Hügels sind etliche Urnengräber mit kleinen Namensplatten markiert. Eine von diesen gilt dem großen Dichter der Nachkriegszeit Wolfgang Borchert (1921–1947) und seinen Eltern Fritz und Hertha. Über sein Leben, sein Werk und dessen Wirkung hat Heinrich Böll später einmal geschrieben:

…Er hatte keine Zeit, und er wusste es. Er zählte zu den Opfern des Krieges, es war ihm über die Schwelle des Krieges hinaus nur eine kurze Frist gegeben, um den Überlebenden, die sich mit der Patina geschichtlicher Wohlgefälligkeit umkleideten, zu sagen, was die Toten des Krieges, zu denen er gehört, nicht mehr sagen konnten: dass ihre Trägheit, ihre Gelassenheit, ihre Weisheit, dass alle ihre glatten Worte die schlimmsten ihrer Lügen sind.

Dennoch, Wolfgang Borchert hat das Leben geliebt und über sich einmal geschrieben:

Lieber ganz gestorben und gelebt – als alt geworden und die Welt nur tropfenweise genossen.

Einen unverkennbaren Einfluss auf sein literarisches Werk übte u. a. auch seine Liebe zu Hamburg aus und dazu gehörte der Friedhof Ohlsdorf. In seinem Lobgesang über seine Heimatstadt schrieb er:

Hamburg! Das sind die tropischen tollen Bäume, Büsche und Blumen des Mammutfriedhofs, dieses vögeldurchjubelten gepflegtesten Urwaldes der Welt, in dem die Toten ihren Tod verträumen und ihren ganzen Tod hindurch von den Möwen, den Mädchen, Masten und Mauern, den Maiabenden und Meerwinden phantasieren. Das ist kein karger militärischer Bauernfriedhof, wo die Toten (in Reih und Glied und in Ligusterhecken gezwungen, mit Primeln und Rosenstöcken wie mit Orden besteckt) auf die Lebenden aufpassen und teilnehmen müssen an dem Schweiß und dem Schrei der Arbeitenden und Gebärenden – ach, die können ihren Tod nicht genießen …

Oder er fügt in seinem Drama "Draußen vor der Tür" in der 5. Szene folgenden Dialog zwischen Beckmann, der seine Eltern sucht, und Frau Kramer ein:

B.: Um Gotteswillen, wo sind sie denn hin, die alten Leute? Sie haben hier dreißig Jahre gewohnt und nun sollen sie mit einmal nicht mehr da sein? Reden Sie doch was! Sie müssen doch irgendwo sein!

Frau K.: Doch. Soviel ich weiß: Kapelle 5.

B. : Kapelle 5? Was für eine Kapelle 5 denn?

Frau K.: Kapelle 5 in Ohlsdorf. Wissen Sie, was Ohlsdorf ist? Ne Gräberkolonie. Wissen Sie wo Ohlsdorf liegt? Bei Fuhlsbüttel. Da oben sind drei Endstationen von Hamburg. In Fuhlsbüttel das Gefängnis. In Alsterdorf die Irrenanstalt. Und in Ohlsdorf der Friedhof. Sehen Sie, und da sind sie geblieben, Ihre Alten. Da wohnen sie nun. Verzogen, abgewandert, parti. Und das wollen Sie nicht wissen?

Ebenfalls in der Dichterecke beigesetzt wurden weitere niederdeutsche Schriftsteller wie Wilfried Wroost (1889–1959), Stele; Adolf Woderich (1906–1963), kleine Namensplatte; Hermann Quistorf (1884–1969), kleine Namensplatte, und Friedrich Wilhelm Meyer-Brink (1912–1973) sowie die Mutter von Wolfgang Borchert, die Schriftstellerin Hertha Borchert (1895–1985), kleine Namensplatte (siehe Beitrag von Barbara Leisner, S. 21). Aber auch bekannte Volksschauspieler der Niederdeutschen Bühne fanden hier ihre letzte Ruhe: Theodor Stockmann (1889–1951), Stele; Magda Bullerdiek-Bäumken (1890–1959) und Walther Bullerdieck (1901–1971), gemeinsame Stele nunmehr im "Garten der Frauen" am Wasserturm; Walter Scherau (1903–1962), kleine Namensplatte; Carl Voscherau (1900–1963), kleine Namensplatte; Henry Vahl (1897–1977), große Namensplatte und Bruno Vahl-Berg (1903–1984), große Namensplatte.

In diesen Reigen einzuschließen und ergänzend zu nennen, sind auch jene niederdeutschen Schriftsteller, deren Gräber an anderen Orten des Friedhofs zu finden sind. Dazu gehören: Gustav Falke (1853–1916), AC 7, 109-113, in der Nähe der Dichterecke; Hermann Boßdorf (1877–1921), B 14, 22-24, bei Kapelle 4 am Zaun; Hans Friedrich Blunck (1888–1961), AC 15, 7-14, beim Nordteich und Ludwig Jürgens (1893–1966), Bp 73, 337, bei Kapelle 13.

Die Dichterecke ist nicht nur von kultureller Bedeutung für die niederdeutsche Bühnenbewegung und landschaftlich von außerordentlichem Reiz, sie ist zugleich auch der Beginn des sogenannten "Stillen Weges", des schönsten Fußweges auf dem Friedhof. Er beginnt bereits am Ende der Talstraße mit bemerkenswerten Bildhauerarbeiten: "Der Lesende" für Curt W. Ceram (s. Beitrag von Peter Schulze), "Mutter und Kind" von Oskar Ulmer und die Gedenkstätte für nichtbeerdigte Kinder. Leider hat ein üppiger Gehölzbewuchs auf dem Hügel derart zugenommen, dass kaum noch bemerkenswerte Sichtbeziehungen zwischen den einzeln stehenden Grabmalen mehr möglich sind. Das eindrucksvolle Ensemble der Grabdenkmale ist für den Besucher nicht mehr erfahrbar. Ein Schmuckstück des Friedhofs droht zu verwildern.

Auflistung alle Artikel aus dem Themenheft Ohlsdorf und seine Dichter (November 2008).
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