Direkt zum Inhalt

OHLSDORF - Zeitschrift für Trauerkultur

" …von den Engeln getragen in Abrahams Schoß"

"Ach, Herr, lass dein lieb Engelein
an meinem End die Seele mein
in Abrahams Schoß tragen."

Dieses Gebet für das Ende des Lebens bezieht sich auf das Gleichnis vom armen Lazarus und dem reichen Mann aus dem Lukas-Evangelium (Neues Testament, Lukas 16,19ff). Dort heißt es: "Es war aber ein reicher Mann, der kleidete sich in Purpur und kostbares Leinen und lebte alle Tage herrlich und in Freuden. Es war aber ein Armer mit Namen Lazarus, der lag vor seiner Tür voll von Geschwüren und begehrte, sich zu sättigen mit dem, was von des Reichen Tisch fiel; ... Es begab sich aber, dass der Arme starb, und er wurde von den Engeln getragen in Abrahams Schoß. Der Reiche aber starb auch und wurde begraben. Als er nun in der Hölle war, hob er seine Augen auf in seiner Qual und sah Abraham von ferne und Lazarus in seinem Schoß."

In diesem Gleichnis vom Schoß Abrahams, des Stammvaters des jüdischen Glaubens, in dem die Seele wie ein Kind geschützt und geborgen aufgehoben ist, wird auch die christliche Vorstellung von Engeln versinnbildlicht, die beim Tod eines Menschen anwesend sind. Schon in sehr frühen Handschriftenminiaturen des Mittelalters wurde sie verbildlicht, und die Darstellung wurde später auch auf den Tod der Gottesmutter sowie von Heiligen übertragen, deren Seelen in vielen Bildern ebenfalls von Engeln empfangen und zum Himmel gebracht werden.1

Gerade der Tod Marias wird dabei auf mittelalterlichen Tafelbildern gern in einem intimen Rahmen dargestellt, der die damaligen häuslichen Gegebenheiten widerspiegelt: Die Gottesmutter liegt auf ihrem Bett; Jünger beugen sich schmerzlich bewegt über sie oder wenden sich von Trauer übermannt ab, während die Sterbende in vollkommener Ruhe erscheint. An ihrer Seite steht dann entweder ihr göttlicher Sohn mit ihrer Seele im Arm oder aber es schweben eben jene schon genannten Engel herbei, die den kleinen nackten Seelenkörper empfangen, der aus ihrem Kopfbereich entströmt, und – wie Hebammen bei einem Neugeborenen – im Sterben die kleine Seele auffangen, die sich von ihrem irdischen Körper löst. Diese Idee von der Ablösung der Seele vom Körper in Gestalt eines puppenartigen Menschen, die von Engeln himmelwärts getragen wird, breitete sich im Laufe der Zeit immer mehr aus und wurde später auf das Sterben eines jeden rechtschaffenen Menschen übertragen.

Legenda aurea
Erzengel Michael als Seelenwäger, aus der Elsässischen Legenda Aurea. (Foto: Universitätsbibliothek Heidelberg, Cod. Pal. germ. 144, fol. 135r)

I. Daneben gibt es eine weitere Überlieferungslinie: Mit dem Erzengel Michael steht eine schon im Alten Testament genannte Gestalt aus den höchsten Engelshierarchien bereit, um den "guten" Seelen zu helfen. Jakobus de Voragine benennt Michael in seiner berühmten Legenda Aurea als jenen Engel, der "wider die tufel zuo des endekristes ziten sol fehten. Er furtreib die tufel us dem himelrich...Er enphohet die seligen selen vnd geleitet die in das ewige leben" (wider die Teufel zu der Zeit des Weltgerichts fechten soll. Er vertreibt die Teufel aus dem Himmelreich ... Er empfängt die seligen Seelen und geleitet die in das ewige Leben).2 Dargestellt wird Michael seit dem Spätmittelalter nicht nur im Kampf mit den Teufeln, sondern auch als Seelenwäger, der über das ewige Heil eines Verstorbenen entscheidet. In einer Illustration der Elsässer Legenda Aurea von 1418 rettet und verteidigt er so die demütig in seiner Waagschale betende Seele mit dem Guss des Heils, während die Teufel versuchen, die andere Waagschale in die Tiefe zu ziehen, damit sie als zu leicht befunden wird.3

II. Am Ende des Mittelalters wurde dieser Kampf der Teufel und der Engel um die Seele in den Artes Moriendi, den Texten und Bildern zur "Kunst des Sterbens", weiter ausgeschmückt: Dort sieht man den Sterbenden in seinem Bett liegen. Zur Todesstunde erscheinen ihm nicht mehr nur die helfenden Engel, sondern auch teuflische Wesen, die ihn bedrängen.4 Später scheint sich daraus die allegorische Darstellung von der Versuchung des Menschen entwickelt zu haben, der schon zu Lebzeiten in der Mitte zwischen einem Engel und einem Teufel steht und sich zwischen beiden entscheiden muss.5

Ars moriendi
Sterbeszene, Holzschnit aus der "Ars moriendi", gedruckt in Köln von Nicolaus Götz, um 1475. (Foto: Barbara Leisner)

III. Während die Darstellung des Erzengels Michael als Seelenwäger in vielen Schriften und Einblattholzdrucken überliefert ist, hat sie in jenen Bereich der Trauerkultur, der sich in Grabmälern verdinglicht hat, kaum Eingang gefunden. Dagegen hat ein anderer biblischer Engel stark in die Grabmalgestaltung hineingewirkt: Als die drei Frauen nach der Grablegung Christi mit Salbgefäßen zu seinem Grab kommen und es leer finden, erscheint ihnen ein himmlischer Bote, der die Auferstehung Jesu verkündet. Schon in der Buchmalerei und in den Kirchen des 12. Jahrhunderts wurde diese geflügelte Gestalt mit zum Himmel erhobenem Zeigefinger abgebildet. Noch heute finden sich auf zahlreichen Friedhöfen Grabmale mit Engeln, die diese Geste wiederholen und damit den christlichen Auferstehungsglauben auf die Gräber tragen.

Im 18. Jahrhundert treten auf Grabmalen auch jene Engel auf, die eingangs als Seelengeleiter erwähnt wurden. Sie tragen zwar nicht mehr den kleinen Seelenkörper in Abrahams Schoß, heben aber anstatt dessen das gerahmte Porträt des Verstorbenen zum Himmel hinauf und bilden so eine – eher im weltlichen Gedankengut von Ruhm und Ehre angesiedelte – Allegorie der Apotheose, also der Verherrlichung und Erhebung des Verstorbenen in himmlische Sphären.6 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts kommen die Engel vom Himmel auf die Erde herab, um Verstorbene auf ihren Wegen zu begleiten und zu führen; wie zum Beispiel auf dem Grabmal Lehmkuhl auf dem Ohlsdorfer Friedhof, wo ein Engel einen jungen Soldaten in Mantel und Pickelhaube an die Hand nimmt.7

Grabmal Commentz
Galvanoengel, Grabstätte Familie Commentz auf dem Ohlsdorfer Friedhof (Foto: Barbara Leisner)

Wie lebendig die Vorstellung von hilfreichen Engeln in der Stunde des Todes im 19. Jahrhundert noch war, belegt ein Zitat aus einem Erziehungsbuch für junge Mädchen, das mehrfach wiederaufgelegt wurde. In diesem Buch wird das Sterben nicht ausgelassen, denn es war damals nichts Ungewöhnliches, dass auch Kinder und Jugendliche vom Tod hinweggerafft wurden. Der folgende Dialog zwischen zwei jungen Mädchen war deshalb beispielhaft gemeint:

Die Todkranke beginnt ihn mit den Worten: "Dir will ich‘s sagen, sonst aber keinem: ich fürchte mich so vor dem Sterben, und freue mich doch so sehr auf den Himmel. Und ich würde mich nicht fürchten, wenn nur Eines mit mir gehen könnte, ‘s ist mir nur um das Alleinsein! Ich bin noch nie einen Tag von den Meinigen fort gewesen. Es ist so schrecklich zu denken, daß sie Alle, Alle mich so verlassen, und der Tod mich an die Hand nehmen und durch das dunkle Thal führen darf, und Keiner wehrt es ihm! …" – "Aber hast Du denn die Engel vergessen?" fragte ich sie da. "Weißt du nicht, daß die uns entgegen kommen und uns die Flügel anheften, die uns in den Himmel tragen?" – "Die Engel? Meinst Du gewiß, daß die Engel kämen, auch wenn ein so armes Ding stirbt wie ich bin?" – "Gewiß!..."

Der Glaube, dass Engel im Tode für jeden Menschen sorgen und ihn begleiten, ist in diesem Text allerdings nicht mehr selbstverständlich, sondern muss der zweifelnden Sterbenden und damit auch den potentiellen Leserinnen sanft ins Gedächtnis zurückgerufen werden. Vielleicht war gerade dieser Zweifel einer der Gründe dafür, dass am Ende des 19. Jahrhunderts eine kurze Hochblüte der Engel in der Friedhofs- und Grabmalkunst einsetzte, so dass sie in einer ungeheuren Vielzahl aus ihrer unsichtbaren himmlischen Sphäre heraustraten und sich in Bronze- und Marmorplastiken auf den Gräbern der Toten verkörperten.

Grabmal Zucker
Engel und Kind, Biskuitporzellan, Grabmal der Familie Zucker in Kottingwörth, Altmühltal (Foto: Barbara Leisner)

Um die Wende zum 20. Jahrhundert kamen daneben kleine puttenartige Engelchen aus Biskuitporzellan in Mode, die in Massen auf den neuen Kindergrabfeldern aufgestellt wurden. Wobei anzumerken ist, dass mit der Verstädterung der Bevölkerung die Kindersterblichkeit bis dahin ungekannte Ausmaße annahm. Die kindlichen Porzellanengel veranschaulichen dabei die Vorstellung, dass gestorbene Kinder nach ihrem Tod zu Engeln werden, wie es zum Beispiel in dem bekannten Märchen vom Tränenkrüglein von Ludwig Bechstein erzählt wird, wo das gestorbene Kind seiner Mutter erscheint und ihr mitteilt, dass es "ein seliges Engelein geworden" und Engel seine Gespielen seien. Zum anderen entstanden aus ähnlicher massenhafter Fertigung wie die Porzellanfiguren die Galvanoengel, mit denen die kostbareren Bronzeplastiken imitiert wurden. Diese Engel erscheinen nun nicht mehr nur mit erhobener Hand als diejenigen, die Verstorbene und Trauernde zum Himmel weisen und geleiten. Anstatt dessen lassen sie sich selbst als Trauernde auf den Gräbern nieder. Auch schweben sie mit einem Palmwedel im Arm herab und bringen damit das Symbol des Sieges, der Freude und des Frieden zu den Toten, womit sie zugleich wieder auf das ewige Leben und die Auferstehung hinweisen. Darstellungen von Palmblättern wurden in diesem Sinne schon auf frühen christlichen Grabsteinen verwendet. Wenn sie aber in der Hand eines weiblichen Engels erscheinen, dann vermischt sich dessen Gestalt zugleich mit der griechischen Siegesgöttin Nike beziehungsweise der ihr entsprechenden römischen Victoria, die in der Antike ebenfalls als geflügelte junge Frauen mit Siegeskranz und Palmzweig dargestellt wurden und im 19. Jahrhundert auch als Friedensengel auf Siegessäulen in den neuen Großstädten ihren Platz fanden. Damit zeigt sich, dass für die Engel im Bereich der Trauerkultur ganz unterschiedliche Traditionslinien zu finden sind. Zum größten Teil stammen sie in einer langen Traditionslinie aus frühen christlichen Traditionen, aber sie können auch bis in die griechische und römische Antike zurückreichen.

1 Vgl. z.B. Die Miniatur vom Tod des reichen Mannes und Lazarus im Evangelienbuch Heinrichs III. aus
Echternach, 1039/1043 (Handschrift & Text, Bremen, Universitätsbibliothek, Ms b 21, fol 76 v.), die Darstellung vom Tod des heiligen Liudger (Leben des heiligen Liudger, 1086/1100, Handschrift, Berlin, Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Ms. theol. lat. fol. 323) oder die Abbildung Tod, Himmelfahrt und Krönung Mariae (in Paris, Biblia vulgata; fol 2, um 1310/1320, Bildseite, Berlin, Staatliche Museen zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Kupferstichkabinett , Sammlung der Zeichnungen und Druckgraphik, Hs. 78 E 2) Alle Abbildungen sind unter der Internetadresse von www.fotomarburg.de veröffentlicht.

2 Williams, Ulla/ Williams-Krapp, Werner (Hrsg.): Die ‚Elsässische Legenda Aurea’, Band 1: Das Normalcorpus (Texte und Textgeschichte 3), Tübingen 1980 (Sigle H1). S. 644

3 Universitätsbibliothek Heidelberg, Cod. Pal. germ. 144: Elsässische „Legenda aurea“, fol. 135r (Der Erzengel Michael als Seelenwäger), Abb. siehe http://www.ub.uni-heidelberg.de/helios/fachinfo/www/kunst/digi/1418/cpg…. Diese Vorstellung von dem Abwiegen der Seelen nach dem Tode ist auch in anderen Kulturen und Religionen bekannt, wie ägyptische Totenbücher und buddhistische Tankas zeigen.

4 Das wird besonders deutlich in den Bildern am Ende der Artes Moriendi, wo die Sterbestunde dargestellt wird. Vgl. insgesamt zu den Artes Moriendi: Hiram Kümper, Tod und Sterben: lateinische und deutsche Sterbeliteratur des Spätmittelalters (Mit einem Beitr. zur Bilder-Ars-moriendi von Andrea Berlin), Duisburg [u.a.]: WiKu-Verl., 2007

5 Ein schönes Beispiel für diese anhaltende Wirksamkeit dieser Vorstellung ist ein Comic von Hergé, in dem der Hund Struppi zwischen einem weißen Engel und einem roten Teufel steht, die seine Entscheidung beeinflussen wollen.

6 Vgl. das Grabmal des Generals von Rodt (†1743), geschaffen von Christian Wenzinger, Freiburger Münster, Freiburg im Breisgau

7 Leisner e.a., Der Hamburger Hauptfriedhof Ohlsdorf, Bd. 2, Kat. Nr. 797

Auflistung alle Artikel aus dem Themenheft Engel Engel Engel (März 2008).
Erkunden Sie auch die Inhalte der bisherigen Themenhefte (1999-2024).