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OHLSDORF - Zeitschrift für Trauerkultur

Mein Großvater Wilhelm Herbst, ein "Geometer" auf dem Friedhof Ohlsdorf

Geometer, das war früher die interne Bezeichnung für einen Vermessungstechniker, der auf dem Friedhof nicht nur Straßen, Wege und Baulichkeiten einzumessen hatte, sondern auch für eine genaue Vermarkung der Gräber und deren Dokumentation in einem Kartenwerk, dem Friedhofskataster, sorgte. Eine fortwährende Aufgabe der Verwaltung, auch heute noch.

Mein Großvater erlernte von 1900 bis 1903 in Stapelburg (Nordharz) den Gärtnerberuf. Mit 17 Jahren begab er sich auf Wanderschaft durch Deutschland, so z.B. nach Frankfurt in eine Rosenschule, dann nach Leipzig zur Gärtnerei J. C. Hanisch, dem Königl. Sächsischen Hoflieferanten. Er fühlte sich beruflich stark der Landschaftsgärtnerei verbunden, also dem Anlegen von Grünanlagen und Gärten. Hiervon zeugen noch heute viele alte Fachbücher in unserem Bücherschrank sowie sein Ausbildungszeugnis, in dem von seiner "besonderen Vorliebe für Landschaftsgärtnerei" die Rede ist. Die Wanderschaft führte ihn 1907 über Celle nach Hamburg, wo er u.a. bei dem "Gartenbau-Uebernehmer W. H. Witt" als Gärtner in der "Baudeputation" und dort in der "5. Ingenieur Abteilung" tätig war. Mit 29 Jahren wurde er 1915 bei der Stadt Hamburg als Gärtner eingestellt. Die Arbeit blieb ihm nur für eine kurze Zeit vergönnt, da er im selben Jahr zum Kriegsdienst als Melder an die Westfront eingezogen wurde. Mein Großvater überlebte die Stellungskriege in Frankreich sowie Belgien.

Nach dem Krieg war er dann als Gärtner auf dem Ohlsdorfer Friedhof tätig und gründete in den 20er-Jahren eine Familie. Sein Schwiegervater bzw. mein Urgroßvater mütterlicherseits war als "Staatsarbeiter" ebenfalls auf dem Friedhof tätig und erlebte noch den Friedhofsdirektor Wilhelm Cordes. So ist in der Familie folgende "Geschichte" über Cordes überliefert: An einem Heiligabend (das Jahr ist nicht mehr bekannt) machten die Mitarbeiter auf Grund des besonderen Tages sich eine Stunde früher zum Dienstschluss bereit. Cordes erfuhr davon und schickte wutentbrannt die Arbeiter wieder in die Anlagen des Friedhofes zurück!

Ende der zwanziger, Anfang der dreißiger Jahre sah mein Großvater die Möglichkeit, seinem Interesse für das Zeichnen und dem Umgang mit Geländeverhältnissen, wie in der geliebten Landschaftsgärtnerei, näher zu kommen. Er erhielt die Chance, eine Ausbildung zum Vermessungstechniker zu absolvieren. Wahrscheinlich tat er das in einer Abendschule. Diesen neuen Beruf führte er speziell in der Friedhofserweiterung, dem sogenannten Linneteil aus. Zwei Messgehilfen standen ihm zur Seite. Von seiner Tätigkeit zeugt in den Familienunterlagen ein Friedhofsplan von 1928 (gez. Linne) und ein Foto vom "Baubuero" mit den dort planenden Mitarbeitern für die Erweiterungsfläche. Das Baubüro befand sich im Planquadrat Bn 53, an der Mittelallee vor der Hecke der heutigen deutschen Soldatengräber des Zweiten Weltkrieges. Das Gebäude hatte dort bis in die 50er-Jahre noch Bestand. Ansonsten hatte mein Großvater seinen Arbeitsplatz im Zeichensaal des Verwaltungsgebäudes, dem sog. Technischen Büro, dort wo heute nur noch mit dem PC gezeichnet wird. Mein Vater berichtete, wenn er meinen Großvater besuchte, von den großen Zeichentischen. Ein Exemplar steht heute im Friedhofsmuseum.

Im Jahr 1940 konnte mein Großvater mittlerweile sein 25-jähriges Dienstjubiläum auf dem Friedhof feiern und bekam eine Urkunde mit folgendem, für die Zeit typischen Text: "Unserem lieben Arbeitskameraden W. Herbst zum 25-jährigen Dienstjubiläum gewidmet von den Kameraden des Ohlsdorfer Friedhofs, Hamburg, den 20. Februar 1940". Als im Juli 1943 Hamburg durch die Alliierten bombardiert wurde, starben im sog. Feuersturm etwa 40.000 Menschen. Um der Seuchengefahr zu begegnen, mussten auf dem Friedhof etwa 37.000 Tote schnellstens in Massengräbern beigesetzt werden. Das Einmessen der Anlage für die Opfer des Feuersturms (im Bereich Bn 65-Bq 68) musste mein Großvater umgehend besorgen. Er berichtete sonst nicht viel vom Friedhof, aber seine damaligen Erlebnisse hatten große Spuren hinterlassen. So erzählte er in späteren Jahren wiederholt von den Beisetzungen in den Massengräbern und den zerschundenen Häftlingen des Konzentrationslagers Neuengamme, die hier die Toten beisetzen mussten.

Im Februar 1944 wurde mein Großvater für einen erneuten Kriegseinsatz gemustert und das mit 58 Jahren. Im Wehrpass wurde er, auf Grund des Einsatzes auf dem Friedhof, als unabkömmlich eingestuft. Nach dem Kriege arbeitete er noch sechs Jahre auf dem Ohlsdorfer Friedhof bis er 1951 mit 65 Jahren in den Ruhestand ging. Bei der Verabschiedung wurde ihm eine liebevolle handkolorierte Urkunde überreicht, die seit meinen frühesten Kindheitserinnerungen bei uns zu Hause hing und somit immer auf den Friedhof verwies, auf dem er nun auch begraben liegt. Mein Großvater verstarb 1969 im Alter von 83 Jahren.

Auflistung alle Artikel aus dem Themenheft Technik und Friedhof (Mai 2006).
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