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OHLSDORF - Zeitschrift für Trauerkultur

Vorwerker Friedhof Lübeck: Carl Höppners letzte Ehre für Opfer von Gewalt und Terror

Im Januar 1992 starb in Lübeck Carl Höppner, 90 Jahre alt.

In einem langen Berufsleben, über das er 1982 den Chronisten informierte, hatte er auf dem Vorwerker Friedhof alle Arbeiten verrichtet, die auf einem Gottesacker anfallen. Tausendemal ist er der letzte Mensch gewesen, der anderen den allerletzten Dienst erwiesen hat: Das Grab ausheben und wieder verfüllen – Gewohnheitssache, denn „einer muss es ja nun mal machen“. Eine Zeit aber hat es gegeben, die der Senior – in den Augen seines ehemaligen Arbeitgebers ein Urgestein der kommunalen Friedhofsverwaltung Lübecks – nie hat verwinden können: Ihm wurde in den 40er-Jahren in großer Zahl Opfer der Luftangriffe auf Lübeck und Hamburg sowie der Flüchtlingsströme überlassen – und Tote des Nazi-Terrors: Verschleppte, Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene. Vor allem aber, in den letzten Tagen des Zweiten Weltkrieges, elend gestorbene Gefangene des Konzentrationslagers Neuengamme, erste Toten-Vorhut des „Cap Arcona“-Dramas, der größten Schiffskatastrophe seit Menschengedenken.

Am 19. April 1945 wurden in Neuengamme 6.000 Häftlinge in Güterwagen gepfercht. Ziel war der Lübecker Hafen. Zugleich trafen dort bis zum 26. April 1945 per Fußmarsch ausgemergelte Gefangene aus Mecklenburg ein. Als nächstes Haftlager wartete der fahruntüchtige Frachter „Thielbeck“ auf schließlich nahezu elftausend Elendgestalten – um in Schüben auf den Frachter „Athen“ getrieben zu werden, der die hoffnungslose Menschenladung auf das in der Neustädter Bucht fahruntüchtig ankernde ehemalige Kreuzfahrt- und nachmalige Marine-Wohnschiff „Cap Arcona“ transportieren sollte. Was die NS-Machthaber so kurz vor dem sicheren Ende ihrer Terrorherrschaft mit den Häftlingen vorhatten, blieb unklar. Neben der als Marinefahrzeug deklarierten „Cap Arcona“ befanden sich Hunderte von ebenfalls von der Kriegsmarine beschlagnahmten Schiffen auf der Ostsee – für die englische Luftwaffe, die Royal Air Force (RAF), sämtlich Militärfahrzeuge und damit feindliche Ziele.

Am 3. Mai 1945 schließlich befanden sich 4.500 Häftlinge an Bord der „Cap Arcona“. Auf der erst am Tag zuvor aus Lübeck per Schlepperhilfe nach Neustadt verholten „Thielbeck“ waren es 2.800, an Bord der „Athen“ 2.000, als die Royal Air Force ihre massiven Angriffe begann. 7.000 Tote wurden danach gezählt, fast alle Gefangenen der „Cap Arcona“ und der „Thielbeck“. Nur die im Neustädter Hafen verbliebene „Athen“ blieb von den Attacken verschont.

Doch die Tragödie begann schon erheblich eher – im Ausgangsstandort Lübeck. Zahlreiche Häftlinge waren bereits auf dem Transport, kurz nach Ankunft am 19. April 1945 oder während der Liegezeit ums Leben gekommen – allein bis zu 30 täglich an Bord der „Thielbeck“ als Folge einer gut gemeinten Tat: Nach dem Genuss von Schmalz, vom Schwedischen Roten Kreuz als Liebesgabe verteilt. Diese ungewohnt schwere Kost führte bei den nur noch an spärlichste, völlig unzureichende Nahrung gewöhnten Häftlingen zu schweren Magenerkrankungen mit furchtbarem Durst, der mangels ausreichender Versorgung nicht gestillt werden konnte – oder sollte.

Die Wachmannschaften der SS, 700 an der Zahl, lösten das Problem mit den Toten auf gewohnt barbarische Weise: Sie warf sie zum Teil in am Holstenhafen ausgehobene Gräben oder ließ die Leichen zum Vorwerker Friedhof karren, innerhalb von vier Tagen mehr als 180.

Und damit begann für Carl Höppner – nach bereits jahrelangen erschütternden Begegnungen mit aus Polen zwangsverschleppten, sämtlich unter 16 Jahren alten, ewig hungernden, zum Friedhofsdienst getriebenen verzweifelten Jugendlichen – das, was ihm auch fast vier Jahrzehnte später noch die Tränen in die Augen trieb und ihn zum wiederholten Male sagen ließ: „Nee, wat’n Elend! Wat’n Elend! Dat glöwt Di doch hüt gor keen Minsch!“

Carl Höppner
Carl Höppner (Foto: Schreiber)

Denn in Vorwerk herrschten mittlerweile Zustände, die das Friedhofspersonal veranlasste, sich dem Anordnungsterror vorgesetzter Dienststellen zu widersetzen. Am 27. April 1945 befanden sich zum Beispiel auf dem Friedhof mehr als 30 unbestattete Leichen in einem unbeschreiblich erbärmlichen Zustand – mit geschändeten, in Lumpen gehüllten Körpern, mit von tiefer Hoffnungslosigkeit geprägten Gesichtern. Die Friedhofswärter weigerten sich, überhaupt noch Bestattungen vorzunehmen, werde ihnen nicht unverzüglich Gummihandschuhe, Schutzkleidung, Tabak, Alkohol und Schwerstarbeiterzulage zugestanden.

Särge, so erinnerte sich Carl Höppner, schon 1982 der letzte Zeuge dieser Tragödie, gab es überhaupt nicht mehr, zum Schluss nicht einmal Papier, um die Leichen wenigstens zu bedecken. Und für die Massenbestattungen reichte auch das halbe Dutzend Leihsärge mit einem Boden zum Aufklappen und damit zur Wiederverwendung bei weitem nicht aus.

Daraufhin erging die Anordnung, diese und alle folgenden Toten unverzüglich in Massengräber zu versenken – ohne Rücksicht darauf, ob die Personalien bekannt waren und die allgegenwärtige Geheime Staatspolizei (Gestapo) oder andere Behörden ihre für notwendig erachteten Feststellungen getroffen hatten (in späteren Jahren wurde für sie eine würdige Anlage hergerichtet).

Niemand außer Höppner und seinen Kollegen hat diesen – zumeist jüngeren – Toten die letzte Ehre erwiesen. So, wie sie auf dem Friedhof abgelegt wurden, fanden sie ihre letzte Ruhe – mit allem, was sie noch besaßen. Das war in der Regel nur ein Löffel oder eine Gabel, die sie auch im Tod umklammert hielten.

Auflistung alle Artikel aus dem Themenheft Sterben und Tod um 1945 (Mai 2005).
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