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OHLSDORF - Zeitschrift für Trauerkultur

Vom Sofa in die Trauergruppe: Virtuelle Trauerbegleitung in Zeiten von Corona

Autor/in: Elke Heinen
Ausgabe Nr. 153,II,2021 - Mai 2021

Die Trauergruppen der Verwaisten Eltern e.V. in Schleswig treffen sich in normalen Zeiten einmal im Monat im Raum der Geschäftsstelle des Landesverbandes. Wir sitzen bei Tee und Kaffee um einen Tisch herum. Stammplätze bürgern sich ganzvon selbst ein. Den Tisch nutzen wir als Arbeitsfläche für Schreib- oder Bastelarbeiten, um Fotos oder Erinnerungsstücke zu zeigen oder auch nur für eine dekorative Mitte. Das Gespräch wird von den Gruppenleiter*innen moderiert.

Die Vorschriften zur Bekämpfung der Pandemie erforderten im Sommer 2020 einen deutlich größeren Raum für unsere Treffen. Weil dem Gemeindechor das Proben und Singen verboten wurde, konnten wir mit unserer Gruppe zu unserem gewohnten Wochentag in den Saal eines Gemeindehauses umziehen. Ein weiter Stuhlkreis im großen kühlen Saal wurde neuer Treffpunkt.

Die Gruppe der jungen Eltern, die um ihre verstorbenen Sternenkinder trauern, kennt sich seit einigen Monaten. Erste Freundschaften sind entstanden. Die Treffen haben eine große Bedeutung für die Teilnehmer*innen, stehen doch hier ihre toten Kinder und die Trauer um das verlorene Leben im Mittelpunkt. Eigentlich begrüßen sie sich sehr herzlich. Sie schütteln Hände, nehmen sich in den Arm, gehen vertraut miteinander um.

Nun verlangen die Regeln, das Gesicht mit einer Maske zu bedecken, Hände zu desinfizieren, mit Abstand bis zum zugewiesenen Sitzplatz zu gehen, die Maske erst am Platz abzunehmen. Das Zuwinken durch den Raum muss die Umarmung ersetzen. In der Mitte liegt ein buntes Tuch auf den kalten Fiesen, ein paar Blumen und Dekoration. Neben den Stühlen stehen kleine Wasserflaschen, an der Seite ein Tisch mit warmen Getränken zur Selbstbedienung. Aber bitte nur mit Maske aufstehen und sich dorthin begeben.

Zu den Ritualen der Gruppe gehört die Begrüßungsrunde. Ein rotes Herz mit Kerze wandert von Hand zu Hand. Es steht für die Liebe der Eltern. Die verstorbenen Kinder werden mit Namen genannt und so in die Gegenwart dieses Abends hineingeholt. Die Eltern erzählen, wie es ihnen gerade geht, welche Fragen und Themen sie mitgebracht haben. Nun steht das Herz in der Mitte der Dekoration mit viel Abstand zu den Händen der Eltern. Alle arrangieren sich mit den Regeln, zähneknirschend...es muss ja sein...wenigstens können wir uns sehen.


Im November stellt der erneute Lockdown uns vor weitere Herausforderungen: Gruppentreffen als Videokonferenz. Die Teilnehmer*innen dieser Gruppe sind zwischen 28 und 42 Jahre alt, technisch versiert und kennen sich mit Zoom und Jitsi deutlich besser aus als die Gruppenleiter*innen, die sich an das Medium gewöhnen müssen. Die Begrüßung auf dem Bildschirm mit fröhlicher Winkerei und Zurufen von allen Seiten führt zu Rückkoppelungen und schrillen Pfeiftönen. Der Umgang mit den Mikrophonen muss abgestimmt werden. Gruppenleitung bedeutet nun auch technische Regie; bei instabilen Internetverbindungen sind Geduld und Optimismus gefragt.

Durch die winzigen Kameras schauen wir in die Wohnzimmer oder Küchen der Teilnehmenden, sind also bei den Eltern zu Gast. Getränke haben alle vorbereitet, einige sitzen mit Knabbereien auf ihrem Sofa wie für einen gemütlichen Fernsehabend.

Wir versuchen, den vertrauten Ablauf des Treffens einzuhalten. Der Reihe nach berichten die Eltern Aktuelles. Sie halten eine Kerze, die sie für ihr Kind entzündet haben, in die Kamera. Große Konzentration ist in den Gesichtern zu sehen. Sie hören einander zu, wollen jedes Wort aufnehmen. Die Technik funktioniert nicht störungsfrei. Dennoch entwickelt sich eine dichte Atmosphäre und ein nahezu normales Gespräch. Diese Gruppe ist sehr vertraut miteinander. Die Eltern muten sich ihre starken Gefühle, den Schmerz, Ärger und Zorn zu. Sie können auch Pausen miteinander aushalten, Ratlosigkeit, Nachdenklichkeit. Als Gruppenleiter*innen führen wir durch das Gespräch und sind dankbar, dass es gelingt.

Auf einmal gibt es Bewegungen im Hintergrund. Offenbar sind wir beim informellen Teil des Treffens angelangt: ein Kater erscheint und bekommt nicht nur die Aufmerksamkeit seines Frauchens. Ein Vater springt auf und nimmt den kleinen Jungen im Schlafanzug schnell beiseite, bevor der die vielen lustigen Gesichter auf dem Bildschirm entdeckt. Eine Teetasse wird gegen eine Bierflasche ausgewechselt, alkoholfrei. Das lockere und freundliche Geplänkel, dass sonst in der Teeküche stattfindet oder bei der Zigarette draußen, braucht seinen Raum. Entspannung nach der großen Konzentration auf die schweren Themen, Lachen, freundschaftliches Scherzen tun gut. Sie gehören genau wie Kummer und Tränen zur Begegnung und Gemeinschaft, wirken entlastend und tröstend. Der Austausch auf den verschiedenen Ebenen gelingt mit dieser Gruppe auch in einer Videokonferenz, vermutlich, weil wir uns vorher schon kannten und gut miteinander gearbeitet haben.

Mit anderen Gruppen gelingt es nicht. Ältere Eltern verfügen nicht immer über die technischen Voraussetzungen. So manche Gruppe verflüchtigt sich im Laufe der langen Monate. Die Kontakte brechen ab, weil die Menschen sich immer mehr zurückziehen. Frisch betroffene Eltern neu einzubinden, scheint in der Videokonferenz fast unmöglich zu sein.

Die Eltern freuen sich sehr, überhaupt als Gruppe miteinander und mit uns Trauerbegleiter*innen in Kontakt zu bleiben. Durch den anderen Rahmen geht ihnen aber auch einiges verloren. Die Zeit, die sie gemeinsam auf dem Weg zum Treffen im Auto verbringen, ist für die Paare der Übergang zwischen ihrem Alltag und der Verabredung, die sie ja auch mit ihrem verstorbenen Kind haben. Die Trauer an einem vorbereiteten Ort außerhalb der eigenen Wohnung mit anderen Betroffenen und mit Gesprächsleitung teilen zu können, bedeutet Entlastung für die Situation daheim.

Als Gruppenleiter*innen erleben wir, dass in der Videokonferenz die Qualität der Treffen anders ist. Zugewandte Begegnungen und emphatischer Austausch sind die wichtigsten Arbeitsformen in unserer Begleitung der Selbsthilfegruppen. Ein direkter Blickkontakt mit den Teilnehmer*innen ist technisch nicht möglich. Die unbewusste Kommunikation durch Körpersprache ist auf ein Minimum reduziert. Die Interaktion zwischen den Teilnehmer*innen durch Gesten, Blicke, kleine Signale entfällt. Telefonate oder Gespräche, die nur zwischen Eltern und Trauerbegleiter*in stattfinden, haben einen andern Charakter und sind kein Ersatz.

Aktuell befinden wir uns in der dritten Welle der Pandemie. Fragen, die das Bedürfnis der Eltern ausdrücken: Wann können wir uns endlich mal wieder mit unserer Gruppe treffen? Was ist denn eigentlich erlaubt? Sind unsere Gruppen dienstlich oder privat? Welche Regeln sind gerade aktuell? Wie groß muss der Raum sein, wenn wir mit 10 oder 12 Leuten zusammenkommen wollen?

Mit der Videokonferenz holen sich die Eltern und auch wir Gruppenleiter*innen die Schicksale der Familien in die eigene Wohnung, den privaten Lebensraum. Trotz der vielen technischen Hindernisse kann während der Videokonferenz im eigenen Wohnzimmer sehr viel Nähe entstehen, manchmal auch zu viel. Zu viele Gefühle anderer, zu viele Geschichten von verstorbenen Kindern dringen dann in den eigenen Lebensraum ein. Es fehlt der besondere Ort für die Trauer, der Raum der Begegnung, zu dem wir uns alle auf den Weg machen und von dem wir uns bis zum nächsten Treffen wieder verabschieden.

Wir warten sehnsüchtig darauf, uns wieder richtig treffen zu können, mit so viel Nähe und Abstand, wie wir ganz selbstbestimmt geben und nehmen wollen.

Elke Heinen ist Theologin und Familientherapeutin, Leiterin des Arbeitsbereiches Verwaiste Eltern im Ev.-Luth. Kirchenkreis Schleswig-Flensburg sowie Referentin für Trauerarbeit der Verwaisten Eltern und trauernden Geschwister Schleswig-Holstein e.V.

Auflistung alle Artikel aus dem Themenheft Corona und Tod (Mai 2021).
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