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OHLSDORF - Zeitschrift für Trauerkultur

Verena Kessler: Die Gespenster von Demmin

Ausnahmsweise wird hier ein Roman vorgestellt, weil er sich facettenreich mit dem Thema Tod und Bestattung, Trauer und Erinnerung auseinandersetzt – biografisch wie historisch. Nicht zuletzt hängt das Werk eng mit dem letzten Schwerpunktthema der "Zeitschrift für Trauerkultur" zusammen: dem Freitod.

Hauptfigur ist die Neuntklässlerin Larissa, genannt Larry – eine Art weibliches Pendant zu J. D. Salingers "Fänger im Roggen". In ihrer Adoleszenz verzweifelt sie an ihrer alleinerziehenden Mutter, ihren Mitmenschen und der als entmutigend trostlos empfundenen Kleinstadt Demmin (Vorpommern). Ihr Ausweg: Sie will Kriegsreporterin werden. Getrieben von diesem Ziel, begegnet sie dem Tod auf Schritt und Tritt. Ihr Bruder stirbt im zarten Alter von drei Jahren bei einem Unfall. Die Mutter verdrängt diesen Tod und versteckt alle Bilder des Kleinen. Larry aber hütet das einzige ihr verbliebene Foto wie einen Schatz. Weitere Tragödie: Die Mutter ihrer besten und einzigen Freundin stirbt an Krebs. Auch anders rückt der Tod näher: Larry arbeitet aushilfsweise auf dem städtischen Friedhof, freundet sich mit dessen Leiterin und dem Totengräber an. Langsam, wie ein dunkler Schatten, tritt die historische Tragödie von Demmin an die Hauptfigur heran: der Massensuizid kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs bei Einmarsch der Roten Armee im Frühling 1945. Larrys Nachbarin, eine alleinlebende alte Dame, durchlebt immer wieder diese traumatischen Erfahrungen, die ihrer Mutter und Schwester das Leben kosteten. Nach der Bestattung der Nachbarin, die sich – immer geprägt geblieben von den Ereignissen zum Kriegsende – das Leben nahm, fahndet Larry in den Friedhofsakten nach den Toten von Demmin. Auf dem Friedhof gibt es ein Massengrab und ein Denkmal. Die genaue Zahl der Toten und viele ihrer Namen blieben unbekannt, weil das Städtchen an der Peene damals durch Flüchtlinge und Vertriebene überfüllt war. Durch die Annäherung an die eigenen – schließlich spricht die Mutter mit ihr über den Tod des Bruders – und die fremden Toten in ihrer Stadt findet Larry zum Ende des Buches doch noch Ruhe, Trost und Zuversicht. [NF]

Die Gespenster von Demmin, München 2020, 240 Seiten

Auflistung alle Artikel aus dem Themenheft Corona und Tod (Mai 2021).
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