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OHLSDORF - Zeitschrift für Trauerkultur

Verscharrt im Abseits? Der Umgang mit Selbstmördern vom 17. bis zum frühen 19. Jahrhundert

Das Gebot "Du sollst nicht töten!" wurde in der Frühen Neuzeit auch auf Menschen angewandt, die sich selbst töteten oder töten wollten. Ihre Handlung wurde – wie es im deutschen Wort "Selbstmord" ausdrücklich benannt wird – als "Mord" verstanden und damit kriminalisiert.

Die Selbsttötung war auch ein Angriff auf die göttliche Ordnung, sie wurde als Einfluss böser Mächte (des Teufels) gedeutet. Die Peinliche Halsgerichtsordnung Kaiser Karls V., die Constitutio Criminalis Carolina, von 1532 regelte den Umgang mit Selbstmördern nicht, sondern überließ in einer Klausel die Bestrafung der Täter dem Ermessen der jeweiligen Landesherren, die dabei in einigen Regionen unbarmherzig verfuhren. Das Eiderstedter Landrecht von 1590 führte Strafen an der Leiche ein und ließ keine Ausnahmen von der unehrenhaften Bestattung zu. Auch das Lübecker Stadtrecht schrieb vor, Selbstmörder auf freiem Feld zu verscharren.1

Ein Beispiel aus Eiderstedt belegt die damit verbundene Härte: Ein 13jähriger, melancholischer Junge hatte sich 1704 umgebracht und, obwohl die Eltern und Verwandten um ein Begräbnis "an einem abgelegenen Ohrte auff dem Kirchhoffe …. durch den Todten-Gräber" baten, wurde dies abgelehnt und der Junge durch einen (unehrlichen) Gerichts-Büttel verscharrt.2 Ohne Gnade verfuhr man in Oldesloe noch 1793 mit dem Handschuhmacher Johann Hinrich Braun, der zuerst seine Frau und dann sich selbst tötete: Er wurde von Tagelöhnern und armen Leuten außerhalb des Kirchhofs begraben. In diesem Fall aber war der Mord und nicht der Selbstmord der Grund für den Ausschluss aus der Friedhofsgemeinschaft.3

Ein ehrliches Begräbnis, um das die Eltern des Jungen in Eiderstedt baten, beinhaltete vor allem die Bestattung in geweihter Erde und die Begleitung der Leiche durch christliche, ehrliche Leute. Dazu gehörten weiterhin Bestandteile wie eine Trauerfeier, Glockengeläut und Gesang. Die Verweigerung einer ehrlichen Bestattung hatte für den Gestorbenen, vor allem aber für seine Verwandtschaft schwerwiegende Folgen. Der Tote wurde dadurch, dass er in der Feldmark verscharrt wurde, aus der christlichen Gemeinschaft ausgeschlossen. Damit wurde ihm die Erlangung seines Seelenheils, wenn nicht verunmöglicht, so doch erschwert. In einer Gesellschaft, in der ein christliches Begräbnis auf einem Friedhof inmitten der Gemeinde der Abschluss eines ebensolchen ehrlichen und christlichen Lebens war, bedeutete die Begräbnisverweigerung ein für alle sichtbares Zeichen der Unehrlichkeit und des Ausgestoßen-Seins des Verstorbenen. Die Unehrlichkeit des Selbstmörders hatte Folgen für die Verwandten in rechtlicher, politischer und ökonomischer Beziehung: Der soziale Status der Familie konnte anhaltend geschwächt werden.4

Die Berührung von Selbstmördern galt regional bis ins 18. Jahrhundert als ehrenrührig: Der durch seinen frevelhaften Suizid unehrlich und unrein gewordene Körper übertrug seine Infamie auf jeden Berührenden. Ein Fall ist z. B. aus dem Jahr 1646 überliefert: Ein Mann hatte in seiner Jugend geholfen, auf der Insel Helgoland eine Frau zu bestatten, die sich ertränkt hatte, und galt danach als "unehrlich". Jahre später bat er die Obrigkeit um seine Ehrlichmachung.5 Um die Infamierung eines ehrlichen Menschen zu vermeiden, wurden Selbstmörder in der frühen Neuzeit in der Regel von Abdeckern, Scharfrichtern, anderen unehrlichen oder sehr armen Leuten geborgen. Die Angst vor einer Übertragung der Unehrlichkeit bei Berührung konnte so zum Ausbleiben von Rettungs- und Wiederbelebungsmaßnahmen führen.6

Doch gerade am Beispiel der Selbstmörder lässt sich zeigen, dass die harten Gesetzesvorgaben oder die Kirchenordnungen nicht unbedingt den tatsächlichen Umgang mit diesen Menschen widerspiegelten. Es war schon im Mittelalter nicht verborgen geblieben, dass die Taten in großer individueller Verzweiflung oder in einer "Geisteskrankheit" wie der Melancholie ihren Ursprung hatten. In diesen Fällen hoben einige Kirchenordnungen die Begräbnisverweigerung für Selbstmörder auf und ließen ein stilles Begräbnis auf einer Kirchenabseite zu. Es war für Angehörige eines Selbstmörders auch ein Kampf um ihr eigenes soziales Prestige, wenn sie sich für ein stilles Begräbnis, wenn auch auf einer Abseite des Friedhofs, einsetzten. „Still“ war das Begräbnis, weil auf die üblichen Bestandteile wie Gesang, Glockengeläut und Begleitung der Leiche durch ein umfangreiches Gefolge verzichtet werden musste.

Im Gegensatz zum Verscharren handelte es sich bei der Gewährung eines stillen Begräbnisses um eine Gnade. Doch selbst wenn sie gewährt wurde, konnte es zu Protesten kommen, weil eine Gemeinde die Verunehrlichung ihres Friedhofes fürchtete: Es sind Fälle aus dem 17. und 18. Jahrhundert überliefert, in denen die Obrigkeit gegen den Willen der Kirche stille Begräbnisse angeordnet hatte, und die Einwohnerschaft einer ganzen Gemeinde sich dagegen auflehnte. So geschah es im norddeutschen Raum im Oktober 1710 in Krempe.7

Verwandte eines Selbstmörders versuchten in den Aushandlungsprozess, wie eine Selbsttötung zu bewerten sei, aktiv einzugreifen. Jenseits medizinischer oder psychologischer Erkenntnisse, die im 18. Jahrhundert ein immer stärkeres Gewicht bekamen, versuchten sie die zuständige Obrigkeit dadurch zu einem milden Vorgehen zu bewegen, dass sie den Lebenslauf des Toten in den Vordergrund rückten: Ein guter Leumund und ein christlicher Lebenswandel, den Nachbarschaft, Verwandte und der Pfarrer (später der Arzt) bestätigten, halfen, ein stilles, ehrliches Begräbnis zu erzielen. Wer zu Lebzeiten soziales Kapital erworben hatte und in ein Netzwerk aus Verwandtschaft und Nachbarschaft eingebunden gewesen war, hatte deutlich erhöhte Chancen auf einen Begräbnisplatz auf einem Friedhof als ein armer oder umherziehender Mensch von ungewissem Leumund und Lebenslauf. Ein Beispiel wiederum aus Eiderstedt belegt dies: 1680 ertränkte sich Dorothea Maas, eine Frau, die dem Bürgermeister der Stadt Tönning als Amme gedient hatte. Er setzte sich für sie ein und erreichte tatsächlich, dass sie in aller Stille, ohne Gesang, durch ehrliche Leute "zur Erde zu bringen" sei.8

Die Aushandlung begann in vielen Fällen jedoch schon einen Schritt vorher: Die an der Untersuchung eines Falles Beteiligten versuchten den Tatbestand „Selbstmord“ insgesamt zu umgehen und stattdessen von einem "Unfall" auszugehen. Dies war vor allem bei Menschen möglich, die sich ertränkten. Anders als bei Selbstmord durch Erhängen und Erschießen, blieb hier immer ein Zweifel möglich. Dies lässt sich am Beispiel von Selbstmorden in der holsteinischen Stadt Oldesloe in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts gut nachvollziehen. Die Toten wurden von Fischern und Travefahrern, Nachbarn und Angehörigen aus dem Fluss geborgen. Jeder unter ungeklärten Umständen aufgefundene Tote wurde von einem Arzt und in Anwesenheit von Ratsmitgliedern gerichtlich untersucht, vor allem wurde nach Spuren einer Gewalttat gesucht. In jedem Fall wurden Reanimierungsversuche unternommen.

Von einer Scheu, den Körper des eventuellen Selbstmörders zu berühren, ist im 19. Jahrhundert keine Rede mehr. Anschließend wurden Verwandte, Nachbarn und Menschen, die vor der Tat mit dem Toten Kontakt hatten, befragt. So verfuhr man im März 1813 in Oldesloe mit dem Körper des in der Trave gefundenen Schauspielers Paulsen. Da der Tod bereits einige Zeit zuvor eingetreten war, konnte nicht mehr festgestellt werden, ob "der Körper vorsätzlich oder zufälligerweise im Wasser umgekommen" sei. Der Magistrat ordnete seine Beerdigung an und teilte dem Hauptpastor Hansen ausdrücklich mit, "daß ein unglücklicher Fall in der Dunkelheit, und kein böser Wille, den Körper der Gewalt des Wassers übergeben habe." Deshalb trage man keine Bedenken, den Paulsen auf dem Kirchhof zu bestatten.9

Ähnlich verfuhr man sieben Jahre später als der Bürger Lenau, der, wie man feststellte, in größter Armut lebte, am 16. Oktober 1820 ertrunken in der Trave gefunden wurde. Ein Arzt untersuchte den Toten: Da man nichts über die Ursache des Hineinfallens in die Trave wisse, "könne man den Verstorbenen auch nicht als Selbstmörder betrachten." Der Magistrat verfügte seine Beerdigung auf dem Kirchhof "des Abends und ganz im Stillen"10

Bei anderen Ertrunkenen wurde in den folgenden Jahren stets von einem Unfall ausgegangen: Epilepsie, Ausgleiten auf neuen Stiefeln und folgender Fall ins Wasser oder unvorsichtiges Baden wurden als Unfallursachen angegeben. Etwas anders lag der Fall bei dem Tagelöhner Gatermann. Er hatte sich am Vorabend seines Todes am 6. Februar 1834 in einer Gastwirtschaft aufgehalten und die befragten Zeugen sprachen davon, dass er ihnen „auffallend stille vorgekommen (sei), da er sonst gesprächig gewesen wäre“; ein anderer Zeuge sah ihn bei einem Glas Bier "niedergeschlagenen Blicks ohne ein Wort zu tauschen" sitzen. Gatermann war gerade seine Wohnung gekündigt worden, er lebte mit der Frau und drei Kindern in "ärmlichsten Umständen." Damit kein Gedanke an einen möglichen Freitod aufkommen konnte, erklärte sein Schwager, er habe an Gatermann "keinen Mißmuth" feststellen können. Auch Gatermann wurde – ohne dass das Wort eines Selbstmordes fiel – „zur Erde geschafft“ und Pastor Hansen davon unterrichtet.11

Von einer infamen Bestattung ist aber auch bei Menschen, deren Tod eindeutig als Selbstmord zu erkennen war, im 19. Jahrhundert nicht mehr die Rede. Als sich im Mai 1847 ein Tagelöhner in einer Viehtränke umbrachte, fand man um seinen Hals ein Tuch geschlungen, in das ein schwerer Stein eingewickelt war. Der Schwiegervater des Toten vermutete als Ursache für den Freitod, dass sein Schwiegersohn am Vortag wegen einer entwendeten Schiebkarre auf der Polizei verhört und deswegen von seinen Arbeitskameraden "geneckt" worden sei. Die Familie bat um die Auslieferung der Leiche, "um das Begräbniß bewerkstelligen zu können." Dem wurde entsprochen.12

Dem Buchdruckergehilfen Friedrich Grobe, der sich im August 1853 erhängte, bestätigte der Arbeitgeber Schythe einen "exemplarischen Lebenswandel", er habe "still für sich gelebt, keine Schulden oder sonstigen Verdruß gehabt, und wäre er wohl etwas schwermüthig und melancholisch gewesen". Friedrich Grobes Kollege bestätigte die Melancholie, doch es habe „keinen Grund zu Besorgnissen gegeben, daß er ein solches Ende nehmen könnte.“ Grobe wurde auf Kosten der Armenkasse bestattet.13

Die Oldesloer Beispiele aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zeigen, dass der Freitod eines Menschen selbst in eindeutigen Fällen mit Schwermut und Melancholie begründet und als Verzweiflungstat interpretiert wurde. In keinem Fall verweigerte der Magistrat das Begräbnis auf dem Kirchhof.

Anmerkungen
1 Zu den gesetzlichen Vorgaben in Schleswig-Holstein: Vera Lind: Selbstmord in der Frühen Neuzeit: Diskurs, Lebenswelt und kultureller Wandel am Beispiel der Herzogtümer Schleswig und Holstein, Göttingen, 1999.
2 Sylvina Zander: Von "Schinderkuhlen" und Elendenecken, in: Nekropolis: Der Friedhof als Ort der Toten und der Lebenden, hrsg. von Norbert Fischer und Markwart Herzog (= Irseer Dialoge Bd. 10), Stuttgart, S. 109-124, hier S. 123.
3 Stadtarchiv Oldesloe (StAOD), I.VII C, Nr. 183.
4 Zur Unehrlichkeit und ihren Folgen: Sylvina Zander: „Durch die Hand geschändet“. Der Körper als Grenze zwischen Ehrlichkeit und Unehrlichkeit, in: Grenzen in der Geschichte, hrsg. von Martin Rheinheimer, SWSSH 42, Neumünster 2006, S. 219-235.
5 Landesarchiv Schleswig, Abt. 7 Nr. 2033: Supplik von Volker Knudtson wegen Wiederherstellung seines Rufes nach Beerdigung einer Selbstmörderin, 1646.
6Michael Frank: Die fehlende Geduld Hiobs, in: Trauer, Verzweiflung und Anfechtung. Selbstmord und Selbstmordversuche in mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gesellschaften, hrsg. von Gabriela Signori, Tübingen 1994, S. 152-187, hier S. 165. Dem sollte in Lippe eine "Verordnung wegen Rettung verunglückter Personen" aus dem Jahr 1774 abhelfen.
7Beispiele in: Sylvina Zander, Von "Schinderkuhlen" (wie Anm. 2). S. 118.
8 Ebd., S. 122f.
9 StAOD, I.VIII, Nr. 157: Ertrinkungstod des Schauspielers Paulsen, 1813.
10 StAOD, I.VIII, Nr. 1575: Ertrinkungstod des Bürgers Lenau, 1820.
11 StAOD, I.VIII, Nr. 157: Ertrinkungstod des Tagelöhners Gatermann, 1834.
12 StAOD, I.VIII, Nr. 157: Selbstmord des Tagelöhners Claus Naefken, 1847.
13 StAOD, I.VIII, Nr. 157: Selbstmord des Buchdruckergehilfen Friedrich Bernhard Grobe, 1853.

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