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OHLSDORF - Zeitschrift für Trauerkultur

Die Toten von Budapest (Teil I)

Durch die zentrale Lage Ungarns in Europa erlebte das Land eine besonders rege und über tausend Jahre alte Geschichte.

Für die Hauptstadt Budapest listet Wikipedia siebzehn Friedhöfe auf, von denen allein vierzehn der Budapester Bestattungsinstitut AG gehören, dem größten Bestattungsunternehmen in Ungarn und vielleicht in ganz Europa. Von allen Friedhöfen ist zweifellos der Kerepesi Temetö von 1847 der berühmteste. Mit seinen 56 ha besticht er nicht allein durch die große Zahl an Prominenten mit sehenswerten, mal schlichten und mal imposanten Grabstätten, sondern auch durch seine Vegetation, welche hier und dort – trotz Alleen und Rasenflächen – sich selbst überlassen wird. Im ersten Teil dieses Beitrags soll dieser Friedhof daher näher vorgestellt werden, denn er spiegelt hervorragend die letzten 150 Jahre einer äußerst bewegten Vergangenheit wider.

Westlich der Donau und etwa 3 km vom Zentrum entfernt käme dazu noch der Farskaréti Friedhof von 1894 – nicht nur bei Künstlern wegen seiner spektakulären Aussicht über die Stadt und seit den 1950er Jahren seiner Parks beliebt. Der mit einer Fläche von etwa 2 km2 größte Friedhof der Stadt – und auch einer der größten Friedhöfe in Europa – wäre der Új köztemetö oder Neue Kommunale Friedhof am östlichen Rande Budapests. An dessen Grenze liegt der neue und noch benutzte jüdische Friedhof Zsidó Temetö (Kozma utca), der größte der drei Budapester jüdischen Friedhöfe und Ungarns überhaupt. Von diesem letztgenannten wird deshalb im zweiten Teil berichtet – auch von der im Lande überaus bedeutenden jüdischen Gemeinde, die heute noch etwa 1600 Friedhöfe hat und allein in Ungarn 600.000 Opfer durch den Holocaust verlor.

1. Der Kerepesi-Friedhof

Nach der türkischen Besetzung der Stadt Buda (1541-1686), 1687 gefolgt von der Herrschaft der Habsburger, erlebte der Vielvölkerstaat durch den österreichisch-ungarischen Ausgleich eine außerordentliche Entfaltung während der gut fünfzig Jahre andauernden k. u. k. Doppelmonarchie (1867-1918). Ab 1872 werden die drei Städte Pest, Buda und Óbuda vereinigt, die Hauptstadt Budapest erfährt daraufhin einen unvergleichlichen Bauboom, der ihr imposante Gebäude beschert, ehe Ungarn nach dem Ersten Weltkrieg und dem Diktat von Trianon 72 % seines Gebietes und 64 % seiner Bevölkerung verliert. 1945 wird Budapest von sowjetischen Truppen eingenommen, von 1949 bis 1989 ist Ungarn eine sozialistische Volksrepublik.

Diese historische, politische und wirtschaftliche Entwicklung der letzten anderthalb Jahrhunderte inklusive beider Revolutionen von 1848 – der Nationalfeiertag am 18. März erinnert daran – und 1956 findet einen deutlichen Niederschlag in der dortigen Begräbniskultur und ganz besonders auf dem Friedhof Kerepesi. Ungarisch Kerepesi temetö oder Fiumei úti Sirkert genannt, liegt dieser etwa 2 km vom Zentrum in der Nähe des Ostbahnhofs und ist gut mit der U-Bahn Linie 2 erreichbar.

Nahe des Eingangs gelegen befindet sich das "Kegyeleti Múzeum" oder Pietätsmuseum, ein schon von Hans-Jörg Mauss (Ohlsdorf, Nr. 79, IV/2002, S. 24-26) mit Recht gepriesenes und sehenswertes Sepulkralmuseum, das bereits zehn Jahre nach seiner Gründung im Jahre 1991 mit fünf großen Ausstellungsräumen auf zwei Ebenen erstaunlich viel zu bieten hat: Volkskundliches aus dem Karpatenbecken und "Weiße Trauer"; Leichenwagen und Fotos mit großen Leichenzügen; einen Zeremoniensaal mit Gegenständen und Bekleidung; Totenmasken und Bücher; verschiedene Särge (geflochten, aus Metall oder Holz, darunter ein aufgeklappter anschaulich präsentierter Mehrfachsarg); Urnensortimente und volkstümliche ländliche Grabzeichen (Speerhölzer). Leider finden Westeuropäer dort wenig (lesbare!) Information über den Friedhof selbst.

So wie europaweit die Suche nach nationalen Symbolen dem Geist der Zeit entsprach, wurde der Kerepesi-Friedhof im Sinne einer "Ruhmesstätte der ungarischen Nation" errichtet und im Juni 1847 eröffnet. Die erste Bestattung fand im April 1849 statt, eine der ältesten Grabstätten ist die des Dichters Mihály Vörösmarty von 1855. Als Ehrenfriedhof 1885 offiziell anerkannt, beherbergt er über 600 Namen von großen Helden, Staatsmännern, Revolutionären und Künstlern der ungarischen Nation.

Grabmal Batthyáni
Grabmal Lajos Batthyáni (1807-1849) Foto: Behrens

1.1. Nationalhelden der Politik

Auch "Père Lachaise" von Budapest genannt, jedoch größer und grüner, besitzt diese nationale Nekropole einige markante Anlagen, Gebäude und monumentale Mausoleen, die als Orientierung dienen. Drei gigantische Mausoleen für ungarische Nationalhelden fallen durch Prunk und Größe besonders auf: Als Erstes wäre das imposante Gebäude für den ersten revolutionären Ministerpräsidenten Ungarns, Lajos Batthyany (1807-1849), zu nennen, welcher, von den Habsburgern exekutiert, 1870 rehabilitiert und unter einer von zwei Löwen geschmückten Prachttreppe erneut beigesetzt wurde. Diese zeremonielle Umbettung soll nebenbei fast eine ungarische Spezialität sein, der Dichter Attila József (1905-1935) wurde sogar viermal umgebettet, wie wir sehen werden. In der Mitte des Friedhofs steht das Mausoleum von Ferenc Deak (1803-1876), der durch den Versöhnungspakt von 1867 mit den Habsburgern und den "Ausgleich" mit Österreich die Grundlage für eine selbstständige und wohlhabende Nation schuf.

Grabmal Kossuth
Grabmal Lajos Kossuth (1802-1894) Foto: Behrens

Der Leichnam des im Exil verstorbenen Revolutionshelden Lajos Kossuth (1802-1894) wurde aus Turin nach Budapest geholt und ebenfalls in einer großen Prozession erneut zu Grabe getragen. Von außen wie von innen ist die Gesamtanlage besonders prunkvoll. Das Grab aus kostspieligem Material steht mitten in einer prächtigen Grabkammer mit Säulen und einem schimmernden Jugendstilmosaik mit Engeln. Diese drei Mausoleen werden regelmäßig von Schulklassen besucht, wie viele Mitbringsel und Fahnen mit den ungarischen Farben es beweisen.

Auch andere Politiker haben auffällige Ruhestätten, wennschon in anderer Hinsicht. Einige Beispiele:

Grabmal Bethlen
Grabmal des Grafen Istvàn Bethlen (1874-1946). Foto: Behrens

Für Graf Istvàn Bethlen (1874-1946), Premierminister von 1921 bis 1931, steht zum Beispiel hinter der hohen Stele aus schwarzem poliertem Granit mit Namen und Lebensdaten nur eine breite, schlichte Glaswand mit kleinem Zitat.

Grabmal Karoyi
Grabmal des Grafen Mihàly Karolyi de Nagykaroly (1875-1955) Foto: Behrens

Ein zeltartiges Metalldach über seinem Grab bekam Graf Mihàly Karolyi de Nagykaroly (1875-1955), der 1918 die Unabhängigkeit Ungarns ausrief und Präsident der Republik wurde, ehe er später in Frankreich im Exil starb.

Grabmal Antall
Grabmal József Antall (1931-1993) Foto: Behrens

Besonders auffällig wirkt dagegen die Grabstätte des an Krebs verstorbenen József Antall (1931-1993), der 1990 erster demokratisch gewählter Ministerpräsident des Ungarns der Nachwende war. Inmitten einer Wiese steht ein quadratisches Monument wie eine Theaterbühne, mit Figuren bzw. Reitern der Apokalypse an den vier Ecken; erst auf dem Sockel angekommen entdeckt man in der Mitte unter dem komplizierten Faltenwurf ein schlichtes Grab mit kleinem Holzkreuz.

1.2. Wohlhabendes Bürgertum und Künstler

Hinter dem Eingang stößt man auf den markanten, doppelten Arkadengang von 1908-1911, gestaltet in der Art der Friedhöfe Norditaliens: mit Säulen sowie je einer schönen Kuppel mit goldenen Mosaiken an allen vier Enden. Unter den Arkaden und jeweils davor – nördlich und südlich (aber längst nicht nur hier) – sammeln sich nebeneinander besonders viele prächtige Familiengrabstätten aus der florierenden Zeit der Doppelmonarchie.

Dazu seien an dieser Stelle einige Bemerkungen bezüglich der ungarischen Grabinschriften gemacht: Der Vorname steht immer hinter dem Nachnamen; die Ehefrau trägt nicht nur den Namen ihres Mannes, sondern auch seinen Vornamen (in der weiblichen Form mit einem zusätzlichem "né" am Ende – Kàroly ergibt Kàrolyné, Emil Emilné – eventuell stehen zusätzlich ihr ursprünglicher Name und Vorname darunter. Und das Wort "Csalàd", das häufig vorkommt, bedeutet einfach Familie.

Die Thematik dieser gutbürgerlichen Zeit ähnelt dem, was man auch in Ohlsdorf und anderswo sehen kann: menschengroße Plastiken, pathetische Abschiedsszenen – dafür kaum christliche Darstellungen und relativ wenige Engel oder Christus-Figuren.

Die starke erotische Ausstrahlung vieler dieser Figuren fiel schon André Chabot vor zwanzig Jahren auf; in seinem Buch "Erotique du Cimetière" von 1989, ausgestattet mit Photos von ca. achtzig europäischen Friedhöfen kommt der Budapester Kerepesi-Friedhof in dritter Stelle nach Mailand und Genua!

Gerne werden die Verstorbenen in Verbindung mit ihrem Beruf bzw. ihrer Lieblingstätigkeit dargestellt – etwa eine Schauspielerin mit drei Masken und einem Buch in der Hand, eine spielende Geigerin oder ein kleiner Flötist für einen Komponisten (1900 bzw. 1923), ein Maler mit Muse und Palette (1904), ein Jäger mit Gewehr (1928), ein Geiger im Frack mit seiner Geige.

Porträtdarstellungen sind als vollständige Skulpturen, Medaillons oder Büsten vorhanden, aber längst nicht so verbreitet wie zum Beispiel in Ohlsdorf. Hier einige ausgesuchte Beispiele dieser ungarischen Begräbniskultur:

Links und rechts eines Kreuzes zeigt ein Familiengrabmal von 1885 einen Geiger und eine Sängerin im Halbrelief wie aus der Sissi-Zeit – für den Geiger und Komponisten Jenö Hubay (1858-1937).

Ein Hirte mit drei Schafen vor einem Kreuz steht lebensgroß für den Maler des Realismus Béla Pállik (1845-1908).

Grabmal Pállik
Grabmal des Malers Béla Pállik (1845-1908) Foto: Behrens

Emil Gerbaud (1854-1919), Gründer des berühmten Café Gerbaud, schaut gen Himmel auf.

Die beliebte Schauspielerin und Sängerin Lujza Blaha (1850-1926), gefeiert als "die ungarische Nachtigall", wird auf ihrer Grabstelle im Himmelbett mit vier dorischen Säulen dargestellt – auf den Stufen zu ihren Füßen sitzen singende Putten und ein trauernder, musizierender Barde.

Das Grab des Bildhauers Miklós Ligeti (1871-1944) besteht nur aus einem leeren Sessel, darauf der zurückgelassene Mantel, Hut und Stock.

1.3. Kerepesi-Friedhof und Sozialismus

Während des Zweiten Weltkrieges wurde der Friedhof zum Teil beschädigt, 1952 zunächst für weitere Begräbnisse geschlossen – vor allem, weil viele der hier Bestatteten nach neuer Lesart "Unterdrücker der Arbeiterklasse" gewesen waren. Die kommunistische Regierung hatte sogar überlegt, die Grabstätten einzuebnen, um auf dem Gelände eine Wohnsiedlung zu errichten. Ein Teil des Friedhofs wurde einer Gummifabrik aus der Nachbarschaft überlassen und 1953 zerstört. Daraufhin versuchte man, den Friedhof ideologisch für das Regime zu vereinnahmen. Die Rettung kam 1958 mit der Errichtung eines "Pantheon der Arbeiterbewegung" im Westteil des Friedhofs (dabei fand u.a. Attila József als "Dichter der Arbeiterklasse" seine dritte Ruhestätte). Bis 1989 wurden kirchliche Begräbnisse dort verboten. Diese waren in der Zeit nur noch auf dem Farkasréti-Friedhof auf Buda möglich und allein Staatsbegräbnissen für treue Würdenträger vorbehalten.

Nach dem Systemwechsel blieben die Gräber aus dieser Zeit weitgehend unangetastet; dennoch wurden einige Neuinterpretationen der Geschichte vorgenommen, so dass beispielsweise Attila József (zum vierten Mal...) zu einem neuen Mahnmal für die Helden des Aufstands von 1956 umgebettet wurde. Der ungarische Volksaufstand vom Oktober 1956 war durch die sowjetischen Streitkräfte blutig niedergeschlagen worden; die Opfer sind auf einer großen Friedhofsfläche gebettet, mal in Gemeinschaftsgräbern auf einer Wiese, mal in einzelnen Grabstätten auf verschiedenen Rasenflächen. Hin und wieder stehen dort (wie auf dem ganzen Friedhof) einzelne, in der alten Tradition geschnitzte Holzbalken anstelle eines Steines. Besonders beindruckend jedoch sind entlang einer Allee die vielen schwarzen Tafeln mit den alphabetisch aufgelisteten Namen und Altersangaben der Opfer.

Namen der Opfer
Tafeln mit den Namen der Opfer des ungarischen Volksaufstands von 1956.
Foto: Behrens

In der Nähe des Eingangs in der Nordwestecke des Friedhofs befinden sich noch Parzellen für sowjetische Verstorbene. Lange galt Kerepesi als kommunistischer Friedhof. So verbot ein Sohn des großen ungarischen Komponisten, Pianisten und Musikethnologen Béla Bartók (1881-1945), der 1940 in die USA emigriert und in New York an Leukämie gestorben war, dass die Asche seines Vaters dort begraben wurde. Seine Grabstätte liegt auf dem Farskaréti-Friedhof.

Seit zwanzig Jahren hat der Friedhof wieder einen normalen Betrieb aufgenommen. Man findet dort wie in Westeuropa ebenso Urnengemeinschaften wie moderne Gräber, darunter interessante Skulpturen oder Grabsteine für verschiedenste Künstler aus der Musik- oder Theaterwelt, die wegen fehlender Sprachkenntnisse leider nicht immer klar einzuordnen sind.

Am 13. Juni 2010 war eine Art "Tag des Friedhofs". Viele Besucher konnten eine kleine Bahn benutzen, die für Führungen und Besichtigungen der Höhepunkte eingesetzt wurde und immer wieder durch die Alleen fuhr. Das meiste Programm fand aber auf einer Bühne unter einem Zelt vor dem Deak-Mausoleum im Zentrum des Friedhofs statt mit Vorträgen, Musik, Kasperletheater, außerdem auch Ess- und Trinkmöglichkeiten. Überdies sammelten sich viele Schachspieler, jung und alt, auf der Mausoleumsterrasse.

Erstaunlicherweise gab es trotz der höheren Besucherzahl immer wieder verlassene Ecken und verwilderte Gräber – sogar ein Fasanen-Weibchen konnte man an dem Tag dabei beobachten, wie es erschrocken hinter einer verlassenen Skulptur verschwand... Treffender, als es der Journalist Christian Pasche am 19.6.2010 in der Tageszeitung für Ungarn und Osteuropa "Pester Lloyd" getan hat, kann man den Kerepesi-Friedhof wohl kaum beschreiben: "56 Hektar nationale Erinnerungskultur und eine wunderschöne Parkoase".

Literatur
Wikipedia: List of cemeteries in Budapest, Kerepesi Cemetery, Farskaréti Cemetery

Budapester Beerdigungsanstalt: Pietätsmuseum; Kegyeleti Múzeum
André Chabot: Érotique du Cimetière, Henri Veyrier, 1989, Paris, 223 S.
Hans-Jörg Mauss: Budapest – Friedhof und Sepulkralmuseum Kerepesi, Ohlsdorf, Nr. 79, IV/2002, S. 24-26

Philippe Landru: Budapest – Cimetière Kerepesi, visité en août 2004, 18.6.2008, Cimetières de France et d’ailleurs. www.landrucimetieres.fr
Christian Pasche: Die Umgebetteten. Zur bewegten Geschichte einer letzten Ruhestätte: Der Kerepeser Friedhof in Budapest. www.pesterlloyd.net/2010_24/24kerepesi/24kerepesi.html

(Teil II folgt in der nächsten Ausgabe)

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