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OHLSDORF - Zeitschrift für Trauerkultur

Jüdische Friedhöfe in Hannover (Teil 1)

Der folgende Text ist ein Auszug aus einer Seminararbeit, die die Verfasserin im Wintersemester 2006/07 im Institut für Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie der Universität Göttingen angefertigt hat. Der Teil 2 nebst Literaturverzeichnis folgt in Nr. 104 der Zeitschrift OHLSDORF.

Der alte jüdische Friedhof an der Oberstraße

Der alte jüdische Friedhof an der Oberstraße war von etwa 1550 bis 1866 in Gebrauch, das genaue Entstehungsdatum lässt sich nicht mehr rekonstruieren. In Norddeutschland ist er der älteste erhaltene jüdische Friedhof.1 Er zeigt uns heute, wie die Friedhöfe traditionell gestaltet wurden, birgt aber dank seiner langen Belegungszeit auch schon Anzeichen einer veränderten Grabgestaltung in sich und zeigt uns zugleich, wie die jüdische Gemeinde zu dieser Zeit ihre Traditionen pflegte.

Seit wann genau es Friedhöfe im Judentum gibt, ist nicht klar, aus biblischen Zeiten ist lediglich die Beerdigung auf dem Familiengrundstück bekannt. Aber spätestens seit der Diaspora sind gemeinsame Begräbnisstätten für die Juden immens wichtig, wichtiger noch als eine Synagoge. Versammeln konnte man sich schon in einem kleinen Raum, aber eine Ruhestätte für die Toten zu finden war schwieriger, da im Judentum, anders als im Christentum,2 das Ewigkeitsrecht herrscht, das Recht der Toten, unangetastet in ihrer Begräbnisstätte zu ruhen. Daher auch die jüdische Bezeichnung für ihre Friedhöfe als "Haus der Ewigkeit", oder auch "Haus des Lebens" oder im deutschen Sprachraum oft "guter Ort".3 Die heute oft als Kulturdenkmal betrachteten alten jüdischen Friedhöfe sind dementsprechend eigentlich innerjüdische Erinnerungsorte. Sie waren Teil des jüdischen Funktionsgedächtnisses, das sie an die zu erwartende Auferstehung, ihre Tradition, ihrer Herkunft, die hebräische Sprache und natürlich an ihre Vorfahren erinnert. Sie waren Teil einer gemeinsamen Sinnkonstruktion, mittels der die Gemeinschaft zusammengehalten und zugleich von anderen abgegrenzt wurde. Der alte jüdische Friedhof spiegelt auch heute noch dieses Festhalten an der eigenen Tradition und die Abgrenzung zum christlichen Umfeld wieder, wie die Beschreibung des Friedhofs und seiner Gestaltung deutlich machen wird.

Das Ewigkeitsrecht ist auch der Grund dafür, dass die älteren jüdischen Friedhöfe meist außerhalb des ursprünglichen Stadtzentrums liegen. Die Kirchfriedhöfe des Mittelalters bildeten zentrale soziale Stätten und erst im Zuge der Reformation begann man sie u.a. aus hygienischen Gründen aus den Städten auszulagern.4 Die jüdischen Friedhöfe aber errichtete man von Anfang an außerhalb der Stadtgrenzen, so auch den ältesten jüdischen Friedhof Hannovers. Der alten jüdischen Verbandsgemeinde im Raum Hannover wurde nur ein unbrauchbarer Sandhügel, weit abgelegen und umgeben von Feldmark zugewiesen. An ihm vorbei führte eine, für damalige Verhältnisse, viel benutzte Straße, die die Bauern auf ihr Feld führte. Da der Friedhof anfangs nicht ummauert war, kam es zu Schädigungen durch Fuhrleute, die den Sand abtrugen. Diese Tat ist weniger als Angriff auf das Judentum, als vielmehr als Ignoranz zu interpretieren. Als auf mahnende Schilder hin trotzdem weiter Sand abgetragen wurde, errichtete man 1740 eine Kalksteinmauer, die bis in die 1980er-Jahre erhalten blieb, dann aber durch eine Feldsteinmauer ersetzt wurde.5

Frdh. Oberstraße
Alter jüdischer Friedhof an der Oberstraße, Außenansicht. Foto: Reisner

An seiner höchsten Stelle ist der Friedhof heute etwa vier Meter hoch, man geht davon aus, dass aus Platzmangel die Toten in mehreren Schichten übereinander bestattet wurden. Ein Phänomen, das bei jüdischen Friedhöfen häufiger anzutreffen ist, der alte jüdische Friedhof in Prag z.B. trägt bis zu zwölf Schichten unter sich.6

Schon von außen fällt dem Betrachter des hügeligen Friedhofs auf, dass alle Gräber in eine Richtung weisen. Orientiert man sich, stellt man fest, dass es sich um eine Ausrichtung nach Osten handelt, was auf den Wiederauferstehungsglauben und den Glauben an die Ankunft des Messias zurückzuführen ist, die die Juden in Jerusalem erwarten.7

Frdh. Oberstraße 2
Alter jüdischer Friedhof an der Oberstraße, Innenansicht. Foto: Reisner

Mit einem Blick über die hohe Mauer kann der Betrachter auch schon erkennen, dass die Grabsteine alle ziemlich schlicht und ähnlich aussehen, was auf den jüdischen Glauben, dass alle Menschen auch nach dem Tod noch gleich sind, zurückzuführen ist. So sind die Grabsteine auf diesem Friedhof alle aus schlichtem Sandstein gemeißelt. Schaut man etwas genauer hin, bemerkt man, dass jeglicher Blumenschmuck fehlt. Nun ist das nichts Ungewöhnliches für alte Friedhöfe. Auch der alte Nicolaifriedhof in der Nordstadt aus dem 13. Jahrhundert zeigt dem Spaziergänger keinen Blumenschmuck. Aber im Judentum hat auch dies Tradition und hängt mit dem Gleichheitsgedanken zusammen. Daher wurden die Gräber traditionell höchstens mit schlichtem Grün oder rankendem Efeu bepflanzt und auch nicht umrandet. Als Zeichen der Ehrerbietung legten Besucher dafür kleine Steine auf den Grabstein, ein Brauch, der auch heute noch geführt wird.8

Das gesamte Grabfeld dieses Friedhofs wirkt recht ungeordnet und durcheinander, was daran liegt, dass man im Mittelalter oft versuchte, Familienangehörige beieinander zu bestatten. In der Neuzeit ging man dazu über, die Menschen chronologisch nach ihrem Ableben zu beerdigen und dementsprechend auch Reihen anzulegen.9

Betritt man nun den Friedhof und betrachtet die Grabsteine genauer, stellt man fest, dass auf der Vorderseite nur die hebräische Quadratschrift eingemeißelt ist. Eine deutsche Grabinschrift findet man gelegentlich auf den jüngeren Gräbern dieses Friedhofes, dann aber auch nur auf der Rückseite. Der Inhalt der Grabinschrift ist nach einem bestimmten Schema aufgebaut: Am oberen Ende befinden sich als Einleitungsformel die hebräischen Anfangsbuchstaben für "Hier ruht" / "Hier liegt begraben" und am unteren Ende die Anfangsbuchstaben für die Schlussformel "Möge seine/ihre Seele eingebunden sein in das Bündel des Lebens". Dazwischen befindet sich eine Eulogie, eine Lobesrede auf den Verstorbenen, die Attribute aufzählt, die nicht etwa den Verstorbenen individuell beschreiben, sondern ganz allgemein auf ein religiöses und pflichtbewusstes Leben schließen lassen. Oft handelt es sich hier um bestimmte Formeln, die auf ältere Schriften, etwa die jüdische Bibel anspielen. In diesem Teil befindet sich auch der Name des/der Verstorbenen und zusätzlich der Name des Vaters oder auch des Ehemannes.10 Diese Form der Namensnennung ist eine wichtige Quelle für die genealogische Forschung: Anhand der Namen konnte man beispielsweise einen deszendenten Stammbaum für die Vorfahren Heinrich Heines herleiten, die ihre Wurzeln in Hannover hatten.11 Zudem befindet sich in der Eulogie meist auch das Sterbe-, nicht aber das Geburtsdatum und zwar traditionell nach jüdischer Zeitrechnung. Neben der Grabinschrift finden sich aber auch Symbole und Zeichen auf den Steinen. Häufig sieht man segnende Hände, die auf eine Abstammung aus dem Geschlecht der Tempelpriester/Kohanim hinweisen. Die Levitenkanne hingegen verweist auf eine Abstammung von den Tempeldienern, die den Kohanim die Hände rituell mit Wasser übergossen. Auch Tier- und Pflanzendarstellungen sieht man, sie spielen meist auf die Namen der Verstorbenen an.12 Um bei dem Beispiel Heinrich Heines zu bleiben: In der Linie seiner Vorfahren ist der Name Gans häufig vertreten, daher taucht auch auf den Grabsteinen des alten Friedhofs häufiger die Gans als Zeichen auf.13

Segnende Hände
Segnende Hände. Foto: Peter Schulze

Denkt man nun an andere Kulturen in Raum und Zeit und die dort häufig anzutreffende Feuerbestattung,14 wird man auf diesem Friedhof vergeblich nach Urnenbestattungen suchen. Zwar gibt es keine einheitlichen jüdischen Jenseitsvorstellungen, fest steht aber, dass zum Judentum der Glaube an ein Leben nach dem Tod gehört. Traditionell glaubten die Juden an eine körperliche Wiederauferstehung und lehnten daher eine Einäscherungen ab. Erst moderne Strömungen gehen von einer Auferstehung der Seele aus und erlauben somit auch Urnenbestattungen, wenn sie auch immer noch selten vorkommen.15

Teil der jüdischen Tradition ist auch die Chewra Kadischa, die heilige Brüderschaft. Es handelt sich dabei um eine Vereinigung, ein jüdisches Ehrenamt, deren Mitglieder sich traditionell um die Sterbenden kümmern, Totenwache halten, die rituellen Waschungen vornehmen, die Beerdigung für die Toten in die Wege leiten und dafür sorgen, dass die Bestattung nach den religiösen Vorschriften verläuft. Auch in Hannover gab es eine Chewra Kadischa, nachweislich vom 18. bis 20. Jahrhundert, die sich um die Verstorbenen kümmerte.16 Einen Teil des jüdischen Funktionsgedächtnisses bildete sicherlich auch damals schon die weit zurückreichende Geschichte der Juden in der Diaspora, die von ständiger Vertreibung und Diskriminierung geprägt ist und wahrscheinlich dazu beitrug, dass sie noch stärker an ihren Traditionen, als zusammenschweißendes Element, festhielten und damit wohl noch zusätzliche Feindseligkeit auf sich zogen.

In Hannover reicht die jüdische Geschichte bis ins 14. Jahrhundert zurück. Wie in vielen anderen Regionen Deutschlands gestattete man den Juden den Aufenthalt nur zeitlich begrenzt und unter rechtlichen Sonderregelungen. Die Politik gegenüber den Juden war keinesfalls eindeutig oder einheitlich, vielmehr zeichnete sie sich durch ein ständiges Auf und Ab aus, in denen man die jüdischen Geschäftsleute ins Land holte, um sie bald darauf wieder zu vertreiben. Die Juden wurden vielfach als Sündenböcke herangezogen. Zu Pestzeiten unterstellte man ihnen, die Brunnen zu vergiften, und die Spannungen der Reformation entluden sich ebenfalls an ihnen. Da Hannover den Juden die Ausübung handwerklicher und agrarwirtschaftlicher Berufe untersagte und Ende des 16. Jahrhunderts auch den Geldhandel zwischen Christen und Juden verbot, blieb den Juden in der Altstadt Hannovers nur noch die Auswanderung übrig. Die fürstliche Regierung der Neustadt Hannovers aber erlaubte die Ansiedlung einer kleinen jüdischen Gemeinde am Anfang des 17. Jahrhunderts.

Aber auch hier mussten die Juden, wie in vielen anderen Gebieten Deutschlands, Schutzbriefe gegen eine hohe Gebühr erwerben, die ihnen einen Aufenthalt von einem Jahr ermöglichten.17

Interpretiert man die Geschichte auf Grundlage Assmanns Theorie, kann behauptet werden, dass die Funktionsgedächtnisse von Juden und Christen derzeit zu unterschiedlich waren und keinen gemeinsamen Nenner, der für beide identitätsstiftend wirken könnte, fanden und sich dies auch in der Friedhofsgestaltung widerspiegelt. Obwohl aber an dieser Stelle auch nicht unterschlagen werden soll, dass ein gewisser Grad der Anpassung auch schon hier an den jüdischen Gräbern festzustellen ist. So finden sich auch epochale oder lokale Stilelemente auf den Steinen des alten jüdischen Friedhofs an der Oberstraße wieder, wie beispielsweise barocke Stilelemente oder Elemente aus der Übergangszeit zum Rokoko, wie etwa das Muschelwerk.18

Der jüdische Friedhof An der Strangriede

Der neue jüdische Friedhof verdeutlicht dem heutigen Besucher die heftigen Veränderungen der jüdischen Gemeinde in Hannover. Mitte des 19. Jahrhunderts erreichten die Juden endlich eine weitgehend rechtliche Gleichstellung: Niederlassungsverbote wurden aufgehoben, das Schutzverhältnis beendet und sie wurden für Handwerke und Gewerbe zugelassen. Mit der Urbanisierung ließen sich auch viele Juden in Hannover nieder und sorgten dafür, dass sich die Zahl der jüdischen Einwohner innerhalb von 80 Jahren fast verzehnfachte. Lebten 1833 nur 537 Juden in Hannover, zählte man 1910 schon 5.155.19 Die jüdische Gemeinde in Hannover gehörte damit zu den zehn größten deutschlandweit. Die 1827 erbaute Synagoge war schon bald zu klein, so dass schon 1870 eine größere und sehr prunkvolle Synagoge errichtet wurde, die die rechtliche Gleichstellung der Juden nun auch in architektonischer Form symbolisierte. Im Zuge der stetig wachsenden Gemeinde brauchte man auch neue Friedhofsflächen: Es dauerte einige Zeit, bis der Bau des neuen jüdischen Friedhofs An der Strangriede genehmigt wurde. Grund für die Verzögerungen waren Bedenken der Herrscherfamilie, dass man den Friedhof von ihrem Sitz in Montbrillant aus sehen könnte. Da das Land, auf dem der Friedhof gebaut werden sollte, zunächst noch Weidefläche war, musste die jüdische Gemeinde für den Wegfall aufkommen. Der alte Friedhof an der Oberstraße wurde zeitgleich mit der Eröffnung des neuen Friedhofs An der Strangriede geschlossen.20

Predigthalle
Friedhof an der Strangriede, Predigthalle des jüdischen Architekten Edwin Oppler. Foto: Reisner

Der neue Friedhof wurde, ebenso wie die neue Synagoge, von dem jüdischen Architekten Edwin Oppler geplant. An der Eingangsseite befanden sich ursprünglich mittig eine Predigthalle und links und rechts zwei über Eck angelegte Häuser, eines für den Gärtner und eines für die Leichenaufbewahrung. Heute stehen nur noch Gärtnerhaus und Predigthalle, die Leichenhalle wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört. Die Bauten entwarf Oppler ganz im Stil der damaligen hannoverschen Architektur. Die Juden assimilierten sich zunehmend im 19. Jahrhundert, und das sollte auch an diesen Friedhofsbauten deutlich werden. Diese veränderte Stellung der Juden macht sich an der ganzen Friedhofsgestaltung bemerkbar, selbst ein unaufmerksamer Besucher der alten Friedhöfe wird dies feststellen. Unter den Gräbern findet man teilweise richtige Prachtbauten. Das ist gerade an den Ehrengräbern und teilweise sehr prunkvollen Familiengrabstätten zu sehen. Familiengräber wurden übrigens erst nach einigem Hin und Her zugelassen, da sie nicht der jüdischen Tradition entsprachen. Einige der pompöseren Gräber waren mit Eisenzäunen umrandet, was als allgemeines bürgerliches Bedürfnis zur Abgrenzung interpretiert werden kann und zeigt, dass die soziale Stellung immer stärker an der Gestaltung der jüdischen Gräber abzulesen ist.21

Neben der äußeren Erscheinungsform änderte sich aber auch die Inschrift. Je jünger die Gräber sind, desto stärker rückt die deutsche Sprache in den Vordergrund. Die älteren Steine des 19. Jahrhunderts zeigen oft noch Übergangsformen, in denen beispielsweise die Eulogie sowohl in hebräischer als auch deutscher Sprache eingemeißelt ist. Aber gerade bei den jüngeren, zu Beginn des 20. Jahrhunderts, ist auch eine inhaltliche Veränderung festzustellen. Beschrieb man in der traditionellen Eulogie noch das allgemeine religiöse Schaffen der Verstorbenen, nannten sie nun zunehmend individuelle Lebensumstände, wie den Beruf oder die Todesumstände. Erhalten blieb meist nur die Eingangs- und die Schlussformel in hebräischer Quadratschrift. Das 19. Jahrhundert ist gekennzeichnet von einer Vielfalt und parallelem Dasein von möglichen Grabinschriften, erst zum Ende des Jahrhunderts setzte sich das Deutsche größtenteils durch.

Daran lässt sich gut das Hin- und Hergerissensein zwischen Emanzipation, Assimilation, Tradition und Dissimilation erkennen. Es gab also nicht mehr nur das auf dem ersten Friedhof so einheitlich erscheinende innerjüdische Funktionsgedächtnis, sondern voneinander abweichende. Manche speisten sich eher aus den jüdischen Wurzeln, andere eher aus ihren deutschen. Dies verdeutlicht auch den Konstruktionscharakter von Funktionsgedächtnissen, sie sind keinesfalls naturgegeben, sondern stellen eine bewusste Auswahl aus dem Speichergedächtnis dar, aufgrund dessen die eigene Identität wiederum konstruiert wird.22 Und angesichts der vielfältigen Zusammensetzung der jüdischen Gemeinde im 19./20. Jahrhundert, bildete die Bruderschaft, die Chewra Kadischa, ein Bindeglied zwischen den verschiedenen Strömungen in Hannover. Die hannoversche Bruderschaft existierte bis 1938.23

Ein anderes Beispiel für den Konstruktionscharakter innerjüdischer Funktionsgedächtnisse ist das Kriegerdenkmal in der Predigthalle des Friedhofs An der Strangriede. Es stammt von 1921 und ist den gefallenen jüdischen Hannoveranern des ersten Weltkrieges gewidmet. 124 Namen sind darauf verzeichnet. Zu Zeiten des Kaiserreichs war eine allgemeine nationale Stimmung im Land verbreitet, die auch die jüdische Gemeinde in Hannover dazu veranlasste, ihre Mitglieder für den ersten Weltkrieg zu mobilisieren. Sogar ihre internen Sozialeinrichtungen stellten sie dem deutschen Militär zur Verfügung. Aus Hannover nahmen 761 jüdische Männer am Krieg teil, die gerade wegen des wieder aufkochenden Antisemitismus ihre nationale Gesinnung demonstrierten. Die Kriegergedenkstätte diente also dazu, die eigene Verbundenheit zu Deutschland sowohl nach innen als auch nach außen zu demonstrieren und verfolgte zudem das Ziel, den wieder steigenden antisemitischen Anfeindungen den Wind aus den Segeln zu nehmen.

Die Anfeindungen nahmen aber vor allem durch die jüdischen Flüchtlingsströme aus dem Osten, zum Ende des 19. Jahrhunderts, aber auch durch die Unsicherheit der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Krisen nach dem Ersten Weltkrieg wieder zu. In Hannover ließen sich etwa 800 Juden aus Galizien und Polen nieder, und die kulturelle Distanz zwischen den deutschen und den Ostjuden war groß. Die Ostjuden stammten meist aus armen Verhältnissen, hatten orthodoxe Glaubensvorstellungen, sprachen andere Sprachen und trugen andere Kleidung. Die deutschen Juden, die so lange für ihre rechtliche Anerkennung kämpfen mussten und nun einigermaßen in die Gesellschaft integriert waren, lehnten eine Gleichsetzung mit den Ostjuden ab, und so blieb den hannoverschen Ostjuden, trotz fürsorglicher Maßnahmen, die Mitgliedschaft in der Synagogengemeinde untersagt, und sie mussten ihre eigenen Bethäuser und kulturellen und sozialen Vereine gründen. So wird auch an dieser Stelle wieder die Verschiedenheit der Funktionsgedächtnisse im Judentum deutlich, die diese Diskrepanz verursachten. Handelte es sich in der Neuzeit vor allem um Diskrepanzen zwischen den Religionen, prallten nun innerreligiöse Unterschiede aufeinander und führten zudem wieder zu einer allgemeinen Ausgrenzung der Juden. Das spiegelt sich auch in den Sportvereinen wieder. Zur Zeit der Haskala hatten Christen und Juden gemeinsame Vereine, aufgrund der innerjüdischen Unterschiede gründete aber die zionistische Bewegung ihre eigenen Sportvereine, und durch den baldigen Ausschluss der Juden aus den deutschen Vereinen erweiterten sich die zionistischen zu allgemein jüdischen Vereinen. Mit der zunehmenden Ausgrenzung der Juden relativierten sich die innerjüdischen Diskrepanzen, und 1937 erkannte die jüdische Gemeinde schließlich alle in Hannover lebenden Juden, auch die Ostjuden, als ihre Mitglieder an.24

1 Vgl. Zöller, Wolfram: Der alte jüdische Friedhof in Hannover und seine Grabsteine von Heinrich Heines Vorfahren. In: Heine-Jahrbuch. Jg. 3 (1995), S. 168-179.
2 Auf christlichen Friedhöfen können die Gräber nach 25 oder 50 Jahren ausgehoben und wieder neu belegt werden.
3 Vgl. Brandt, Henry G.: Bestattung und Friedhof aus jüdischer Sicht. In: Jaspert, Bernd (Hg.): Die letzte Ruhe. Christliche Bestattungsriten und Friedhofskultur in der multikulturellen Gesellschaft. Hofgeismar 1991, S. 64-86.
4 Vgl. Fischer, Norbert: Geschichte des Todes in der Neuzeit. Erfurt 2001, S. 11-16.
5 Vgl. Zöller, Der alte jüdische Friedhof, S. 169-171.
6 Vgl. Rybár, Ctibor: Das jüdische Prag. Glossen zur Geschichte und Kultur Führer durch die Denkwürdigkeiten. Tschechoslowakei 1991, S. 304.
7 Vgl. Brandt, Aus jüdischer Sicht, S. 70.
8 Vgl. Brandt, Aus jüdischer Sicht, S. 71.
9 Vgl. Brocke, Michael und Christiane E. Müller: Haus des Lebens. Jüdische Friedhöfe in Deutschland. Leipzig 2001, S. 20.
10 Vgl. Stürmer, Ein Zeuge sei dieses Steinmal, S. 11-17.
11 Vgl. Zöller, Der alte jüdische Friedhof. S. 173.
12 Vgl. Stürmer, Ein Zeuge sei dieses Steinmal, S. 11-17 und 172-178.
13 Vgl. Zöller, Der alte jüdische Friedhof, S. 172.
14 Näheres zur Geschichte der Feuerbestattung: Fischer, Norbert. Zwischen Trauer und Technik. Feuerbestattung, Krematorium, Flamarium. Eine Kulturgeschichte. Berlin 2002.
15 Vgl. Brandt, Aus jüdischer Sicht, S. 67.
16 Vgl. Schulze, Peter: Juden in Hannover. Beiträge zur Geschichte und Kultur einer Minderheit. Hannover 1989, S. 105f.
17 Vgl. Schulze, Peter: Beiträge zur Geschichte der Juden in Hannover. Hannover 1998 (Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte, 70), S. 9-47.
18 Vgl. Brocke, Müller: Haus des Lebens, S. 92-97 und Plath, Helmuth. Die Grabsteine, Formen und Symbole. In: Wahl, Margret (Hg.). Der alte jüdische Friedhof in Hannover. Hannover 1961, S. 64-75 und S. 66.
19 Vgl. Schulze, Beiträge zur Geschichte der Juden, S.16.
20 Vgl. Schulze, Beiträge zur Geschichte der Juden, S. 16f und S. 27f.
21 Vgl. Ebd., Juden in Hannover, S. 119.
22 Vgl. Hotam, Yotam und Joachim Jacob: Einleitung. In: Dies. (Hg.): Populäre Konstruktion von Erinnerung im deutschen Judentum nach der Emigration. Göttingen 2004, S. 9-16.
23 Vgl. Schulze, Juden in Hannover, S. 105f.
24 Vgl. Schulze, Juden in Hannover, S. 39-49.

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