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OHLSDORF - Zeitschrift für Trauerkultur

Jarnac: Der Friedhof als Ziel von Beutezügen

In einem Bericht vom 26. November 2004 bedauerte die lokale Tageszeitung „Charente libre“ die Plünderung von circa zwanzig Grüften auf dem „Cimetière des Grands Maisons“ in Jarnac.

Die im Südwesten Frankreichs an der Charente gelegene, mit knapp 5.000 Einwohnern kleine Provinzstadt besitzt einen historisch interessanten, 1816 im Westen der Stadt gegründeten Friedhof. Dieser wurde 1958/59 nach Osten vergrößert und bekam erst zu diesem Zeitpunkt seinen jetzigen Haupteingang. Zu den bekanntesten Namen der dortigen Bourgeoisie gehören zum Beispiel die Gründer von berühmten Cognac-Herstellern wie Delamain, Hine, Royer, Roullet oder Courvoisier. In einer Gegend, in der die Reformation starke Verbreitung fand – den Protestanten wurde dennoch erst 1787 nach dem so genannten „Toleranzedikt“ eine legale Existenz gewährt – erhielten ihre Anhänger in Anlehnung an eines der Revolutionsgesetze (Loi de Prairial An XII) einen gesonderten Bezirk innerhalb des Friedhofs zugewiesen. Die Religionszugehörigkeit der alten, im älteren westlichen Teil gelegenen Familiengrüften aus dem 19. Jahrhundert ist an ihrer Gestaltung ablesbar: Die Grüfte der Reformierten lassen sich an ihrer Schlichtheit erkennen, welche kaum Schmuck, höchstens eine Bibel oder eine Sanduhr zulässt, wohingegen die Katholiken öfters mit anspruchsvollerer dekorativer Steinverarbeitung prunken.

Cimetière des Grands Maisons in Jarnac/Frankreich (Foto: Behrens)

Seit mehreren Jahren kommen viele Friedhofsbesucher jedoch vor allem wegen der (gut beschilderten) Ruhestätte des ehemaligen Staatspräsidenten Frankreichs, François Mitterrand (1916–1996), nach Jarnac; seinem Wunsch entsprechend wurde er in seinem Geburtsort neben seinen Eltern und mütterlichen Großeltern in der Kapelle Lorrain beerdigt.

Grabstätte F. Mitterand (Foto: Behrens)

Bei den erwähnten Plünderungen handelte es sich hier weder um Vandalismus, noch um Diebstahl von Vasen oder Platten, wie dies einige Wochen vorher der Fall war, sondern um die gezielte Entfernung besonders schöner dekorativer Skulpturen, von Säulen, Kreuzen, Kapitellen, Knäufen und Fialen. Da diese Stücke zumeist in drei Meter Höhe angebracht sind und ohne Schwierigkeit an die fünfzig Kilo wiegen, wurden für ihre Entwendung Erfahrung gebraucht – und Material: Die Diebe waren offensichtlich Spezialisten... Präzedenzfälle gab es anderthalb Monate vorher bereits auf dem nur 8 km entfernten Friedhof von Saint-Même-les-Carrières (woher die berühmten Quadersteine der Gegend aus der Kreidezeit stammen); seit einigen Jahren wiederholen sich diese Fälle in der Region. Die Hypothese liegt nah, dass es sich hierbei um organisierte Gruppen handelt. Man vermutet Handelsverbindungen mit Spanien, wo die entwendeten Grabskulpturen möglicherweise abgesetzt werden.

Der Bürgermeister von Jarnac, Jérôme Royer, der sich gerade sehr darum bemüht, die verwahrlosten Grabstätten als Zeugnisse der Stadtgeschichte restaurieren zu lassen, ist sauer: „Diese Plünderung ist betrüblich. Sie ist ein Angriff gegen unsere Geschichte, es ist respektlos gegenüber unseren Toten und deren Familien. Diese Leute sind widerlich...“

Die Familiengruft von Mitterrand blieb aber verschont.

Auflistung alle Artikel aus dem Themenheft Sterben und Tod um 1945 (Mai 2005).
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