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OHLSDORF - Zeitschrift für Trauerkultur

"Verwaiste Eltern" - Beratung und Begleitung für trauernde Mütter, Väter und Geschwister

Autor/in: Anja Wiese
Ausgabe Nr. 76, I, 2002 - Februar 2002

"Dies sind die wichtigsten Quadratmeter meines Lebens,"
sagt ein Vater, der mit seiner Trauergruppe am Grab seines Kindes steht.

Für ihn und für viele andere Eltern, die mit dem Tod eines Kindes leben müssen, gehört der Friedhof zu den wichtigsten Orten und Begegnungsstätten in dem veränderten Leben "danach". Dorthin tragen sie ihre Liebe, die sonst so oft ins "Leere" geht ... Hier gibt es einen Platz, an dem sie gestalten, bepflanzen und pflegen können ... Hier "orten" sie den geliebten Körper des verstorbenen Kindes, sind "geerdet" mit dem Kind, das sie so häufig zwischen Himmel und Erde suchen. Ein Teil der Liebe, die sie ihrem lebenden Kind hätten geben und zeigen können, wird hier sichtbar in der liebevollen Gestaltung von Kindergräbern und durch die Wahl ganz besonderer Grabsteine, die durch Symbole und Texte die Unverwechselbarkeit, die Einmaligkeit des toten Kindes dokumentiert und würdigt.

Der Friedhof - ein Ort, an dem Eltern und Geschwister Zwiesprache mit dem verstorbenen Kind halten - ein Ort, der Verbindung schafft zwischen den Welten der Lebenden und der Toten - ein Ort, an dem trauernde Mütter und Väter sensibel die Menschen wahrnehmen, die dort arbeiten.

"Unser Friedhofsverwalter hat mich gefragt, wodurch mein Kind ums Leben gekommen ist. Es hat mir so gut getan, von meiner Tochter zu erzählen ..."

Im Erzählen liegt heilende Kraft. Das erleben auch die Trauerbegleiterinnen, die regelmäßig elf Gruppen für Eltern und Geschwister im Hamburger Verein "Verwaiste Eltern" begleiten: eine Gruppe für Eltern, die ein Kind durch Suizid verloren haben, zwei Gruppen für trauernde Geschwister, drei für Mütter und Väter, die um ein fehl- oder totgeborenes Baby trauern und fünf Gruppen, in denen sich Eltern treffen, deren Kinder durch Unfälle, Krankheiten und durch Gewaltverbrechen gestorben sind.

Die persönliche und telefonische Beratung und Begleitung trauernder Familien, ihrer Angehörigen und Freunde ist ein Schwerpunkt der Hamburger Arbeit. Ein weiterer ist die Beratung und Fortbildung für Berufsgruppen, die mit dem Tod eines Kindes konfrontiert sind: Ärzte, Pflegepersonal und Hebammen, Krankenhausseelsorger, Hospizmitarbeiter und Bestatter, Polizisten, Pädagogen und Erzieher.

Bundesweit gefragt sind die Jahresbücher (jeweils ca. 200 S.) "Verwaiste Eltern. Leben mit dem Tod eines Kindes" mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Zur Zeit sind folgende Jahresbücher in Hamburg erhältlich: Geschwistertrauer, Trauer und Behinderung, Allein überleben und Suizid.

Auch kommentierte Literaturbroschüren (Kind und Tod), Informationsblätter zum Thema, Rundbriefe, die Broschüre "Wie managen Männer Trauer und Verlust" sowie Bücher zum Thema "Tod eines Kindes" können dort bestellt werden.

Aus dem gesamten Bundesgebiet und dem angrenzenden Ausland Österreich, Schweiz und Luxemburg kommen Eltern und Geschwister zu den viermal jährlich angebotenen Trauerseminaren; insgesamt jedes Mal ungefähr 100 Teilnehmer/innen. Die Seminare werden in Kooperation mit dem Hamburger Institut für Trauerarbeit (ITA) in der Evangelischen Akademie Nordelbien im Tagungshaus Bad Segeberg durchgeführt. Und das schon seit Anfang der 80er-Jahre. Damals dehnte sich die 1970 aus dem anglo-amerikanischen Raum kommende Selbsthilfebewegung auch in Deutschland aus. Im Laufe der Jahre entstand ein Netzwerk von 250 Gruppen in Deutschland.

Familien, die mit dem Tod eines Kindes leben müssen, sind auf langfristige einfühlsame Begleitung angewiesen. Durch den Tod eines Kindes gerät die Welt aus den Fugen - alles ist infrage gestellt: Das Selbstbild, das Welt- und Gottesbild. So wie jedes einzelne Familienmitglied seine Position neu überdenken, finden und leben muss, so müssen auch die Beziehungswelten im Umfeld der Familien - im Bekanntenkreis, in der Arbeitswelt und in der Gesellschaft neu definiert werden. Dabei sind Trauernde auf geduldige Unterstützung angewiesen.

Dr. Erika Bodner, Psychologin aus Graz, die um ihren verstorbenen Sohn Herwig trauert, hat geradezu einen Appell an ihre Umwelt gerichtet, der vielen trauernden Müttern und Vätern aus der Seele spricht:

Mitmenschen, nehmt uns trauernde Eltern an!

Geht behutsam mit uns um, denn wir sind schutzlos.
Die Wunde in uns ist noch offen und weiteren Verletzungen preisgegeben.
Wir haben so wenig Kraft, um Widerstand zu leisten.

Gestattet uns unseren Weg, der lang sein kann,
Drängt uns nicht, so zu sein, wie früher, wir können es nicht.
Denkt daran, dass wir in Wandlung begriffen sind.
Lasst Euch sagen, dass wir uns selbst fremd sind.
Habt Geduld!

Wir wissen, dass wir Bitteres in Eure Zufriedenheit streuen,
dass Euer Lachen ersterben kann, wenn Ihr unser Erschrecken seht,
dass wir Euch mit Leid konfrontieren, das Ihr vermeiden möchtet.
Wenn wir Eure Kinder sehen, leiden wir.
Das "Nie mehr" ist wie ein Schrei in uns, der uns lähmt.
Wir müssen die Frage nach dem Sinn unseres Lebens stellen.
Wir haben die Sicherheit verloren, in der Ihr noch lebt.

Ihr haltet uns entgegen: auch wir haben Kummer!
Doch wenn wir Euch fragen, ob Ihr unser Schicksal tragen möchtet,
erschreckt Ihr.
Aber verzeiht: unser Leid ist so übermächtig, dass wir oft vergessen,
dass es viele Arten von Schmerz gibt.

Ihr wisst vielleicht nicht, wie schwer wir unsere Gedanken sammeln können.
Unsere Kinder begleiten uns.
Vieles, was wir hören, müssen wir auf sie beziehen.
Ihr vergangenes Leben mit uns zwingt uns zum Vergleich.
Wir hören Euch zu, aber unsere Gedanken schweifen ab.

Nehmt es an, wenn wir von unseren Kindern und unserer Trauer
zu sprechen beginnen, wir tun nur das, was in uns drängt.
Wenn wir Eure Abwehr sehen, fühlen wir uns
unverstanden und einsam.

Lasst unsere Kinder bedeutend werden vor Euch.

Teilt mit uns den Glauben an sie.

Noch mehr wie früher sind sie ein Teil von uns.
Wenn Ihr unsere Kinder verletzt, verletzt Ihr uns.
Mag sein, dass wir sie vollendeter machen, als sie es waren,
aber Fehler zuzugestehen fällt uns noch schwer.
Zerstört nicht unser Bild! Glaubt uns, wir brauchen es so.
Versucht, Euch in uns einzufühlen.
Glaubt daran, dass unsere Belastbarkeit wächst.
Glaubt daran, dass wir eines Tages mit
neuem Selbstverständnis leben werden.
Euer "Zutrauen" stärkt uns auf diesem Weg.
Wenn wir es geschafft haben, unser Schicksal anzunehmen,
werden wir Euch freier begegnen.
Jetzt aber zwingt uns nicht mit Wort und Blick,
unser Unglück zu leugnen.
Wir brauchen Eure Annahme.
Vergesst nicht: wir müssen so vieles von neuem lernen,
unsere Trauer hat unser Sehen und Fühlen verändert.

Bleibt an unserer Seite!
Lernt von uns für Euer eigenes Leben!

Informationen:
Verwaiste Eltern Hamburg e.V.
Evangelische Akademie Nordelbien
Esplanade 15, 20354 Hamburg
Tel.: 040 - 35 50 56 -43 Fax: 040 - 35 71 87 67
E-Mail: [email protected]
Internet: http//www.verwaiste-eltern.de

Auflistung alle Artikel aus dem Themenheft Zukunft der Friedhöfe (Februar 2002).
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