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OHLSDORF - Zeitschrift für Trauerkultur

Trauerkultur auf Kreta – ein Überblick

Mit 8.000 Jahren Geschichte ist die südlichste, größte Insel Griechenlands Kreta reich an Sagen.

Mit ihr verbunden wird die Geburt des griechischen Göttervaters Zeus, auch seine erste sterbliche Liebschaft: Die dorthin entführte phönizische Königstochter Europa zeugte mit ihm ihren Sohn Minos und so auch das Herrschergeschlecht des Minoer. Kreta hat andererseits viele Herrschaften gekannt – auch römisch, byzantinisch, arabisch, venezianisch, osmanisch, deutsch. Und nach 700 Jahren fremder Besatzung sind die Kreter trotz allgemeiner großer Toleranz ebenfalls in Ungehorsam geübt: Die heutige Erinnerungskultur zeigt, wie oft Aufstände dort tragisch endeten.

1. Grabschätze aus der Antike

Die erste Hochkultur Europas, die minoische Kultur, entstand um 2100 v. Chr. und hatte ihre Blütezeit ab 1700 v. Chr. In dieser Zeit entstehen sowohl herrliche Paläste als auch weitere Sagen: etwa um den Minotauros (von Minos‘ Frau und einem Stier gezeugt) mit Ariadne, Theseus im Labyrinth, dem Universalgenie Dädalus und dessen Sohn Ikarus mit seinem tödlichen Absturz ins Meer von einem Hügel bei Agia Galina… Dort erinnern deshalb heute zwei Statuen an die beiden legendären Flugpioniere (auch in Ohlsdorf übrigens: die schwebende Ikarus-Skulptur von A. Bock beim Grabmal Jerwitz).

Ikarus
Die beiden Flugpioniere Dädalus und Ikarus bei Agia Galina. Foto: Christine Behrens

In der Nähe der Ruinen des minoischen Palastes Kato Zagros im Osten der Insel gibt es ein "Tal der Toten"; rechts und links eines Canyons ragen bis zu 300 m Felswände mit Höhlen empor, in denen die Minoer wie an anderen Orten Kretas einst ihre Toten bestatteten. Erst 1969 entdeckten Archäologen 10 km südlich von Rethymnon die in einem Eichenwald kaum sichtbare Nekropole Armeni, einer der größten Friedhöfe aus spätminoischer Zeit (1400–1200 v. Chr.) mit über 500 Skeletten und über 230 Gräbern. Unterschiedlich groß je nach Wohlstand, sind letztere alle gleich aufgebaut: eine schmale Felstreppe, ein 3–5 m langer Gang (oft noch mit den Steinen davor, die den Eingang versperrten), eine stets nach Osten gerichtete quadratische Grabkammer (die größte bis 5 x 5 m) mit in den Fels gehauener Sitzbank und Mittelsäule. Durchschnittlich waren die toten Frauen erst 23 Jahre alt, die Männer 30; alle lagen fötal in "Pithoi", großen Keramik-Krügen, oder in bemalten Ton- bzw. Holzsarkophagen und mit Beigaben für die Reise ins Jenseits: Waffen, Schmuck, Tongefäßen, Werkzeugen – alles heute in Museen untergebracht.

Nekropole
Die Nekropole Armeni. Foto: Christine Behrens

Die bedeutende Sammlung befindet sich im Archäologischen Museum der Hauptstadt Kretas Heraklion; 2014 nach Jahren Renovierung und grundlegender Überarbeitung wieder geöffnet zeigt es jetzt auch neuste Funde: insgesamt 8500 Objekte aus ganz Kreta in 27 Sälen, vom Neolithikum (6. Millennium v. Chr.) bis zur späten römischen Antike (3. Jh. nach Chr.). Nicht nur aus der außergewöhnlichen minoischen Kultur werden dort Friedhöfe und Trauerkultur akkurat und auch symbolisch dargestellt. Hier davon einige markante Beispiele:

– so unter vielem Schmuck der berühmte, gerne kopierte goldene Anhänger aus einer Nekropole bei Malia; mit zwei Bienen, die einen Tropfen Honig in einer Wabe deponieren, ist es ein Meisterwerk von erlesenem Geschmack aus der Altpalastzeit (2000–1700 v. Chr.).

Anhänger
Der goldene Anhänger aus Malia. Foto: Christine Behrens

– ein großes Begräbnis-Tongefäß oder "Pithos" aus Knossos mit Skelett in der Hockstellung (1700–1600 v. Chr.).

– der einzigartige Sarkophag von Agia Triada und prächtigste aller minoischen Sarkophage, hier nicht aus Ton sondern aus Kalkstein; dessen ausgezeichnet erhaltene Fresko-Bemalung stellt Szenen aus dem Totenreich dar (1370–1300 v. Chr.).

– eine beeindruckende Sammlung von bemalten Tonsarkophagen oder „Larnaken“ aus verschiedenen Nekropolen: manche mit Deckeln (mit Giebel bzw. flach), kleinere in Form einer Badewanne ohne Deckel; der Verstorbene lag generell fötal mit angezogenen Beinen, vielleicht symbolisch für einen Neuanfang im Jenseits (um 1300–1200 v. Chr.).

– eine kleine Tonschale mit Figürchen und symbolischen Anspielungen: Tiere und Vögel am Rand sollen eine paradiesische Welt darstellen, der mittlere Vogel die Seele des Toten, die Trauernde ihre Hoffnungslosigkeit gegenüber dem Tod (Geometrische Zeit, 9. Jh. v. Chr.).

– ein merkwürdiger, mehrteiliger Tonsarkophag aus der klassisch-hellenistischen Spätzeit mit halbrunder Verlängerung für den Kopf des Verstorbenen (330–320 v. Chr.).

– eine schöne bronzene Grabstatue mit einem über seinen vorzeitigen Tod sinnenden jungen Mann (um 50 v. Chr.).

Grabstatue
Bronzene Grabstatue. Foto: Christine Behrens

– auch aus der Römerzeit, ein Marmorrelief mit der posthumen Schiffsreise von Großvater, Vater und Sohn zu den mythischen Inseln der Gesegneten (Mitte des 2. Jh. n. Chr.).

2. Herrschaft und Widerstand

Im Jahre 58/59 brachte der Apostel Paulus das Christentum nach Kreta, sein Jünger Titus wurde erster Bischof der Insel. Die Christenverfolgung begann bei Gortis im Jahr 250, als zehn Bischöfe, die "heiligen Zehn" oder "Agii Deka" im gleichnamigen Dorf den Märtyrertod starben.

Venedig herrschte gut 400 Jahre lang (1204–1669) in Kreta mit ihrer Hauptfestung Candia im Norden, jetzt Heraklion. Aus der Zeit bleiben gut erhaltene Festungen, wie das imposante venezianische Kastell Frangokastello an der Südküste, vor dessen Eingang drei Denkmale stehen. Das erste rechts erinnert an den Widerstand von sechs Brüdern aus einem Nachbardorf, die 1371 den Bau dieser Festung bis zu ihrem Tod 1374 verzögerten; links davon, die beiden Büsten in typischer Tracht an zwei berühmte Kämpfer und an ein Massaker der Türken: Am 17. Mai 1828 töteten türkische Soldaten etwa 700 einheimische Aufständische… Seitdem kehren angeblich an jedem Jahrestag die Geister der Verstorbenen an den Schauplatz der Tragödie zurück – was sich auch in dieser Jahreszeit durch besondere atmosphärische Bedingungen am Meer gut erklären lässt.

Frangokastello
Das venezianische Kastell Frangokastello. Foto: Christine Behrens

Die osmanische Herrschaft (1669–1898) konzentrierte sich auf Hafenorte, das gebirgige Hinterland blieb faktisch ohne Kontrolle – was Rückzugsgebiete für Flüchtlinge und Repräsentanten der Orthodoxen Kirche erlaubte, da viele Kreter gezwungen waren, zum Islam überzutreten. Bis zum 19. Jh. bestand ein Viertel der Bevölkerung aus Muslimen, weshalb alte islamische Grabsteine noch auf Kreta zu finden sind, wie die in direkter Nähe des Archäologischen Museums in Heraklion gelagerten.

Inmitten der Berglandschaft südlich von Rethymnon erhebt sich trutzig das im 14. Jh. gegründete Kloster Moni Arkadi: Es beweist den unbedingten Freiheitswillen der Kreter gegenüber der Türkenherrschaft und gilt als Nationalheiligtum. Klostermuseum, Dauerausstellung mit Fotos von kretischen Freiheitskämpfern, sowie Beinhaus mit Schädeln und Knochen einiger der 964 christlichen Opfer erinnern an die blutige Schlacht um Arkadi. Als türkische Verbände 1866 in das Wehrkloster eindrangen, wo Familien aus dem Umland Schutz suchten, sprengte sich der Abt im Pulvermagazin mit den verschanzten Widerständlern (325 Männern sowie 639 Frauen und Kindern) unter der Parole "Freiheit oder Tod" in die Luft. Der 9. November wurde deshalb zum Feiertag auf der Insel, am 8. November wird alljährlich vor Ort der Ereignisse mit einer feierlichen Prozession gedacht.

Gedenkstein
Gedenkstein für einen Widerstandskämpfer. Foto: Christine Behrens

In Moni Preveli weiter südlich an der Küste machten schon 1821 Mönche unter ihrem Popen Melchisedek ihr Kloster mit Mut zum Zentrum des kretischen Widerstandes. Während der deutschen Besatzung (1941–1944) wurde letzterer noch viel stärker, besonders im Jahre 1941. So hängen an der Mauerwand des Klosters fünf Tafeln in Erinnerung an die Hilfe der Mönche für Hunderte von kretischen Flüchtlingen sowie britischen, australischen und neuseeländischen Soldaten. Und aus demselben Grund, wenig entfernt an der Küstenstraße, liegt vor atemberaubendem Blick eine imponierende Gedenkstätte mit einem kleinen Mahnmal zwischen zwei mannshohen Skulpturen – der damalige Geistliche Agathaggelos Laggovvardos und ein britischer Soldat, beide mit Gewehr. Sie gilt als Dank "für die über 5.000 Leute, die hier durchgingen, aßen, schliefen und denen geholfen wurde" (sogar für manche nach Ägypten zu fliehen). Vor Chora Sfakion an der Südwestküste erinnert ebenfalls eine Anlage an diese Zeit; neben dem kleinen Obelisk (mit darunter Schädeln) steht außerdem ein hoher Stein mit Tafel als Dank von Veteranen aus Neuseeland. Welchen enormen Einfluss die Schlacht um Kreta auf den Ausgang des Zweiten Weltkriegs hatte, zeigen die hohen Verluste auf allen Seiten, die die südlichste Insel Europas leider zu einer bedeutenden Gedenkstätte machten. Sehr eindrucksvoll gibt Klaus Modick in seinem 2000–2003 geschriebenen Roman "Der kretische Gast" die Atmosphäre dieser schlimmen Zeit wieder. Im Nordwesten der Insel, wo die Schlacht am meisten tobte, liegen bei Chania in zwei Soldatenfriedhöfen über 1.500 Allierte und 4.465 Deutsche. Und so kommen jedes Jahr im Mai Kriegsveteranen aus Großbritannien, Australien, Neuseeland und Griechenland zu Gedenkfeiern auf der ganzen Insel. Viel weiter nach Osten liegt an der Südstraße in den Bergen eine beklemmende Anlage, die Gedenkstätte für die Opfer des Massakers von Viannos. Sie ist eins von vielen Beispielen der deutschen Vergeltung an der Zivilbevölkerung mit Massenexekutionen (von insgesamt 9.000 Zivilisten), sowie ganzen Dörfern in Schutt und Asche etwa das Dorf Pevkos in der Nähe. Auf Deutsch, Englisch und Französisch wird dazu ein rührendes Gedicht approximativ übersetzt…

Gedenkstätte 1941
Gedenkstätte an den Widerstand von 1941 gegen die deutsche Besatzung. Foto: Christine Behrens

Einzelner Widerstandshelden werden ebenfalls gedacht; so in Agios Nikolaos im Osten mit der modernen, aparten Statue des von den Deutschen hingerichteten Juristen und Politikers Roussos A. Koundouros (1891–29.10.1944).

Viannos
Gedenkstätte an die Opfer des Massakers von Viannos. Foto: Christine Behrens

Auf der Halbinsel Spinalonga im Nordosten (auch als "Insel der Verlassenen" oder der Verbannten bekannt), genauer gesagt auf der vorgelagerten kleinen Insel Kalidon musste ein weiteres Dorf einen ganz anderen Widerstand leisten: die ehemalige venezianische Festung wurde von 1903 bis 1957 Kretas Leprastation, wohin ein Arzt nur sporadisch kam. Die etwa 1.000 Bewohner waren jahrelang mit Gemüseanbau und Fischerei oder Schule auf sich selbst angewiesen. Neben der Dorfkirche St. Panteleimon von 1709 im Westen – und Häusern aus der türkischen Zeit, die nach 1904 sofort verlassen worden waren – gab es im Osten auf der Bastion Donato (16.–17.Jh.) die St.-Georg Kapelle (1661) für die Bestattungsfeiern und ebenso einen kleinen Friedhof.

3. Einblicke in die heutige Trauerkultur Kretas

Gegenüber Spinalonga steht am Straßenrand ein Mini-Kirchlein zur Erinnerung an diesen Ort; und ein weiteres am Denkmal bei Pevkos. Unterwegs entdeckt man jedoch relativ wenige Gedenkorte mit Heiligen oder Öllampen: z. B. an der Straße nach einem Unfall, vor einer Schlucht ein mit Kieselsteinen liebevoll gebautes Denkmal, das einen krassen Kontrast zu einem längst vergessenen und verrosteten Kasten bildet.

Kirchlein
Gedenk-Kirchlein bei Viannos. Foto: Chrístine Behrens

In der 7 km langen Agiofarango-Schlucht oder "Schlucht der Heiligen" durchlöchern Höhlen und Einsiedlerklausen die bei Kletterern beliebten Felswände (es kann auch unglücklich enden – wie es ein Kreuz am Fels andeutet). Der Tradition zu Folge sollen sich die Asketen der Umgebung ein- bis zweimal jährlich in der Höhle des Abtes versammelt haben. Ein leer gebliebener Stein zeugt von einem verlorenen Bruder…

Todesanzeigen in den Orten selbst werden oft mit Heftklammern (und in vielen Schichten übereinander) an bestimmten Stellen angebracht. Auf diesen Anzeigen mit dem orthodoxen Kreuz und fast immer einem Bild des Verstorbenen stehen verschiedene Zahlen. Denn bekannt gemacht werden nicht nur Beerdigungen sondern auch traditionelle Erinnerungsfeiern nach drei, sechs, neun und vierzig Tagen bzw. Monaten.

Soweit wir es in der kurzen Zeit beurteilen konnten, leuchteten Friedhöfe mit vielen hellen Kreuzen in der grünen Landschaft, etwa südlich des schneebedeckten Bergs Ida. Auf vielen Gräbern in einem kleinen Dorf fällt dort eine Besonderheit auf: eine Art Vitrine, oft dekoriert mit einer Art Vorhang aus weißem Marmor (bis zu fünf "drapierten" Abteilungen); beidseitig sichtbar hinter Glas sind Erinnerungen ausgestellt: Bild des Verstorbenen, Madonna, woanders Zigaretten oder Feuerzeug... Wenige und schlichte Vitrinen zeigt ein anderer Friedhof, dafür viele Vasen – Blumen meist künstlich.

Noch unbedingt erwähnenswert ist zuletzt das besondere Grab von Kretas Nationalpoet Nikos Kazantzakis (1883–1954), der aus Heraklion stammte und den weltweit bekannten Roman "Alexis Sorbas" (1946) schrieb. Er verfasste aber noch viel mehr, andere Romane, Reisebeschreibungen, Gedichte, Erzählungen, Tragödien sowie philosophische Prosa. Zuletzt lebte der Schriftsteller in Südfrankreich, er starb in Freiburg im Breisgau, fand jedoch seine letzte Ruhe im Süden der Hauptstadt Kretas auf der alten Stadtmauer der Martinengo-Bastion. Denn aufgrund seiner als ketzerisch beurteilten Bücher hatte die orthodoxe Kirche ihm die Ruhe in geweihter Erde versagt. So liegt dort in aussichtsreicher Höhe aber einsam das schlichte Grabmal mit einfachem Holzkreuz. Auf einer sehr kleinen quadratischen Bronzetafel vorne erkennt man ein Herz mit Taube und in verschiedenen Sprachen das Wort "Frieden"; hinten lautet die Inschrift übersetzt: "Ich erhoffe nichts, ich fürchte nichts, ich bin frei"…

Literaturhinweise:
J.A. Sakellarakis, Museum Heraklion, Ekdotike Athenon S.A. Athen, 1981
Erica Wünsche, Kreta Wiege des Abendlandes, Bruckmann München, 1984
W. Kopp, Wander- und Reiseführer Kreta, Nelles Verlag München, 1985
Klaus Modick, Der kretische Gast, Piper Verlag München, 12. Auflage 2015
Kreta, ADAC-Verlag, München, 2. Auflage 2016
Kreta, Lonely Planet, 4. Auflage 2016
Kreta, Baedeker, 14. Auflage 2018

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