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OHLSDORF - Zeitschrift für Trauerkultur

"Was von ungetauffter Christen-Kinder Seligkeit zu halten seye" – Kindergräber der Reformationszeit

2007 sind die Theologen im Vatikan zu der Auffassung gelangt, dass Totgeborene, die ungetauft sterben, direkt ins Paradies kommen.

Damit hat die katholische Kirche knapp fünfhundert Jahre nach Luthers Thesenanschlag die Vorstellung des "Limbus puerorum" oder "Limbus infantium", eine Art Vorhölle speziell für ungetaufte Kinder, als eine "unzulässig eingeschränkte Sicht der Erlösung" befunden, eine Sicht, die Jahrhunderte lang den Umgang mit Totgeborenen bestimmte. Deren Eltern befanden sich nämlich in der heiklen Lage, dass einerseits die Taufe als unabdingbare Voraussetzung zu jener übernatürlichen Glückseligkeit galt, welche mit der Aufnahme in den Himmel einherging, man andererseits aber nur lebende und damit beseelte Menschen taufen konnte. Unterblieb dieser Initiationsritus, dann existierten auch kein Name, kein Gedächtnisort und keine Repräsentation als kulturelles Wesen. Ohne Taufe konnten die Neugeborenen nicht in geweihtem Boden, also nicht auf dem Kirchhof selbst begraben werden. Man bestattete sie in einer angrenzenden Ecke oder außen vor der Mauer. Dort aber waren die kleinen Körper ungeschützt den bösen Mächten ausgeliefert. Man befürchtete, dass ihre Seelen als Spukgeister friedlos umherirren oder ihre Körper wieder ausgegraben und zur Herstellung magischer Substanzen benutzt werden könnten. Um diese beängstigende Ausgrenzung aus der christlichen Schutzgemeinschaft zu vermeiden, wallfahrten Eltern mit ihren toten Säuglingen zu bestimmten Kirchen, die im Ruf standen, eine wunderbare kurze Wiederbelebung zu ermöglichen, so dass das Baby an Ort und Stelle schnell noch getauft und danach in geweihter Erde bestattet werden konnte.

Martin Luther aber lehrte, dass der Mensch allein dank der Gnade Gottes das Heil bzw. das ewige Leben erlangt. Und diese Lehre bezogen die protestantischen Theologen auch auf die ungetauften Kinder, die nun mit allen Ehren christlich begraben werden konnten – natürlich nur, wenn ihre Eltern die Kosten dafür aufbringen konnten. Bei diesen Bestattungen wurden nun auch dezidierte Leichenpredigten gehalten. In seiner Predigt für das totgeborene Kind des Grafen Anthon Günther I. von Schwarzburg-Sondershausen legt z.B. Johann Böttiger einerseits ausführlich dar, dass kein Ungetaufter in das Reich Gottes kommen werde, und dass diese Meinung alle, sowohl alte Menschen wie junge Kinder beträfe. Ermahnend weist er seine Zuhörer darauf hin, dass man ein Kind, das nicht getauft werde, vom "Himmelreich abhalte" und dass deshalb das Sakrament der heiligen Tauffe "hochnothig / und keines weges / wo mans nach Christi Ordnung haben kan / zuverachten oder zuverseumen ist." Andererseits aber beantwortet er die Frage, ob die Kinder, die im Mutterleibe oder kurz nach der Geburt sterben "selig oder zu verdammen seyn" damit, dass "aus- und mit Gottes Wort/ ... solche Christen-Kinder nicht zu verdammen/ sondern selig seyn/ ungeachtet sie durch das Sacrament der heiligen Tauffe nicht widergebohren werden".

Mit der Reformation entwickelt sich damit in protestantischen Gebieten eine neue Bestattungstradition für Kinder. Sie werden jetzt häufiger in den Kirchen selbst beigesetzt und erhalten nicht nur eine Begräbnisfeier mit ausführlicher Predigt, sondern teilweise auch reich ausgeschmückte Grabsteine. Wie stark die neue lutherische Lehre an dieser Stelle das Denken veränderte, zeigt z.B. das Grabmal für das "erste Herrlein" des Herzogs und Kurfürsten Johann Georg I. von Sachsen im Dom zu Freiberg. Auf dem Grabmal ist – von vierzehn Ahnenwappen gerahmt – das aufgebahrte, gewickelte Kind mit einem Kranz auf seinem Kopf zu sehen. Ein Engel an seiner Seite drückt durch eine Geste seine Schicksalsergebenheit aus und hält die Märtyrerpalme als Zeichen des Sieges und der ewigen Seligkeit in der Hand. Darunter ist zu lesen, dass das Kind "im Jahr 1605 den 18. Julij, des Nachts zwischen 12 vnd / 1 vhren, zwar wohlgestaldt vnd aller gliedmaßen vollkommen / aber Todt zur Weltt gebohren worden" ist. Es wird also ausdrücklich vermerkt, dass es keine Taufe erhalten haben konnte. Mit diesem aufwändigen Grabmal für ihr ungetauftes Baby brachten die adeligen Eltern nicht nur ihre Trauer zum Ausdruck, sondern verwiesen zugleich in aller Öffentlichkeit darauf, dass sie mit den Jenseitsvorstellungen des Katholizismus gebrochen hatten.

Amönau
Grabstein für zwei Kinder von Rehen, gest. 1595 und 1596, Amönau/Hessen, evangelische Pfarrkirche. Foto: Bayrisches Landesamt für Denkmalpflege

Ähnlich ließ auch die Familie von Rehen in dem kleinen Ort Amönau in Hessen seine beiden verstorbenen Kinder in einem Denkstein verewigen, wobei das Ungetaufte als Wickelkind im Vordergrund erscheint. Wickelkinder sind auf einer ganzen Reihe weiterer Grabmale anzutreffen. Der Brauch, Säuglinge in den ersten Wochen nach ihrer Geburt zu wickeln, war bis zum Ende des 18. Jahrhunderts weit verbreitet. Man glaubte, dass die empfindlichen Gliedmaße ohne diese Wickelung Schaden nehmen würden. Allerdings wird nur selten so eindeutig auf die fehlende Taufe und die protestantische Gnadengewissheit hingewiesen wie in Freiberg.

Kirchbrak
Grabplatte für das Wickelkind Jürgen von Grone in Kirchbrak, Kreis Holzminden. (Zitiert nach: DI 83, Landkreis Holzminden, Nr. 105, Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Inschriftenkommission. Foto: Meike Willing in: http://www.inschriften.net/landkreis-holzminden/inschrift/nr/di083-0105…

Oft sind dagegen Bibelstellen zu lesen, die damit in Verbindung stehen; so z.B. auf dem Grabmal für Jürgen von Grone in Kirchbrak (Kreis Holzminden), in dessen Innenfeld ein Wickelkind umgeben von einer rundbogigen Arkade zu sehen ist. Auf die Herkunft des Babys verweisen nicht nur die vier Wappen in den Ecken, sondern auch die rahmende Umschrift. In dem Arkadenbogen über dem Kind steht die Bibelstelle Markus 10 auf Niederdeutsch: "LATHET · DE · KINDERKE(N) · THO · MI · KOMEN · VND · WE=/RET · EN · NICHT · WENTE · SOLCKER · IS · DAT · HIM//MELRIKE". Insgesamt kann man bei Grabmalen von Neugeborenen, die in den Kirchen selbst oder auf geweihten Friedhöfen angebracht wurden, davon ausgehen, dass die neue Heilgewissheit impliziert ist, selbst wenn sie nicht eindeutig belegt ist.

Nicht ganz so häufig wie die Wickelkinder erscheinen übrigens nackte Säuglinge auf Grabmalen: In der ehemaligen Wallfahrts- und Pfarrkirche zu Mauren findet sich unter den insgesamt sieben Grabmälern für die jung verstorbenen Töchter des Eberhard Wolf von Dachenhausen und seiner Gemahlin Veronika geb. Truchseß von Höfingen eine Grabplatte, die dem ersten Kind des Paares gewidmet ist. Das kleine namenlose, also ebenfalls ungetaufte Mädchen starb 1588 zwei Stunden nach der Geburt. Es liegt unbekleidet auf einem mit Troddeln verzierten Kissen und trägt als Zeichen seiner vornehmen Abstammung eine Perlenkette um den Hals.

Mauren
Namenloses Baby, gest. 1588, Tochter des Eberhard Wolf von Dachenhausen, Mauren, ehemalige Wallfahrts- und Pfarrkirche. Foto: Susanne Schmidt, Holzgerlingen http://www.zeitreise-bb.de/alphafr1.html

Nicht lange nach der Reformationszeit hat man auch in katholischen Gegenden die Sitte übernommen, selbst für kleine Kinder Grabmale zu errichten. Doch der Glaube an den Limbus gehörte, wie anfangs erwähnt, noch lange zur Lehrmeinung der Kirche.

Auflistung alle Artikel aus dem Themenheft Luther - Reformation und Friedhof (Februar 2017).
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