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OHLSDORF - Zeitschrift für Trauerkultur

Über Seemannsgräber auf der Insel Sylt

Gesellschaft und Alltag an der Nordseeküste beruhen auf regionalspezifischen Erfahrungen mit dem Wasser. Das Meer bietet Arbeit und Nahrung, ist aber auch bedrohlich: Sturmfluten, Schiffsunglücke, Badeunfälle sind allgegenwärtig. So ist der Tod seit Jahrhunderten ein steter Weggefährte der Küsten- und Inselbewohner.

Dieser "maritime" Tod hat in der Küstenlandschaft der Nordsee symbolisch-repräsentative Spuren hinterlassen. Grabmäler der Küsten- und Inselfriedhöfe berichten in regionalspezifischen Symbolen und Inschriften von individuellen Schicksalen und tragischen Unglücksfällen. Oft blieben die Toten im Meer verschollen. Auf vielen Küstenfriedhöfen gibt es daher gemeinschaftliche Erinnerungsmäler für jene, die auf hoher See umkamen (z. B. Gedenkwand Friedhof Cuxhaven-Brockeswalde). Manchmal wurden Erinnerungsmäler nicht auf Friedhöfen, sondern als weithin sichtbare Landmarke errichtet (z. B. „"Iolaire"-Denkmal über der Hafeneinfahrt von Stornoway, Isle of Lewis/Schottland). Zu den regionalen Besonderheiten der Nordseeküste zählen darüber hinaus die Grabmäler auf den „Namenlosen-Friedhöfen“. Die Einrichtung solcher Begräbnisplätze für unidentifizierte Strandleichen im 19. Jahrhundert zeugt von einem einschneidenden Wandel im Umgang mit dem Tod an der Küste.

Die maritimen Grab- und Erinnerungsmäler mit ihrer im einzelnen aufzuschlüsselnden Gestaltung und Symbolik drücken die unmittelbare Nähe und direkte Erfahrung des "nassen Todes" aus, der für die Küstengesellschaft bezeichnend ist. Ihre Errichtung und stetige Pflege dokumentiert, wie sehr sich die zu Grunde liegenden tragischen Ereignisse in das kollektive Gedächtnis der Küstenbewohner eingeprägt haben.

Dies gilt in gleich mehrfacher Hinsicht auch für die Insel Sylt. Auf dem Keitumer Kirchhof steht, nahe des Einganges, bis heute ein Findling mit der Aufschrift "Den Unbekannten". Der Gedenkstein ist auch auf einem Gemälde des Keitumer Malers, Fotografen und Dichters Magnus Weidemann (1880–1967) zu sehen. Das Bild stammt aus dem Jahr 1933, trägt den Titel "Die Seemannsgräber" (im Besitz des Nordsee-Museums Husum) und zeigt eine vergleichbare Situation auf dem Kirchhof. Auf diesem Gemälde ist der Gedenkstein – etwas anders positioniert als heute – ebenso zu sehen wie, dahinter stehend, neun hölzerne Kreuze ohne Inschriften. Aber im Gegensatz zum Gedenkstein sind diese Kreuze heute auf dem Keitumer Kirchhof nicht mehr zu finden.

Der Titel des Gemäldes ist ebenso bezeichnend wie der Gedenkstein auf dem Keitumer Kirchhof – handelt es sich doch bei dem Begriff "Seemannsgräber" um die Bestattung unbekannter Toter. Diese waren in Regel Opfer von Schiffbrüchen.

Keitum
Gedenkstein für unbekannte Strandleichen auf dem Kirchhof Keitum auf Sylt. Foto: N. Fischer

Das Thema Schiffbruch ist in der norddeutschen Kunst und darüber hinaus von prominenten Malern immer wieder behandelt worden. So fanden die folgenreichen Gefahren des Meeres ihr Abbild in Caspar David Friedrichs berühmtem Strandungsbild "Eismeer", aber auch bei seinen Zeitgenossen Heinrich Reinhold und Johan Christian Dahl. Reinhold zeigt die Tragödie besonders eindringlich in seinem 1819 entstandenen Gemälde "Nach dem Sturm". Spätestens seit dem legendären Untergang der französischen Fregatte "Medusa" 1816 ist das Thema "Schiffbruch" über den konkreten Anlass hinaus höchst symbolisch besetzt: Géricaults berühmtes Gemälde „Schiffbruch der Medusa“ verwies auf die Krise der französischen Gesellschaft in der Restaurationsära. Im 19. Jahrhundert wurde das Thema Schiffbruch zu einem regelrechten Trend in der internationalen Kunst.

Eingangspforte
Eingangspforte zum historischen Namenlosen-Friedhof in Westerland. Foto: N. Fischer

Gerade an der nordfriesischen Küste gab es bis weit in die Neuzeit hinein zahlreiche Schiffbrüche, in deren Folge Tote auch an den Ufern und Stränden von Sylt und anderen Inseln angeschwemmt wurden. Zumeist konnten sie nicht identifiziert werden. Das Keitumer Kirchenarchiv beherbergt ein "Register der zur See Gebliebenen", das die nicht mehr zurückgekehrten Seeleute verzeichnet. Es enthält auch einige Informationen über die Umstände des „nassen Todes“. Zum Beispiel heißt es unter dem 1. November 1805: "Peter Jens Bleiken aus Keitum, weiland Bleick Petersen und weil. Chressem, geb. Tamens, ehel. Sohn. Er fuhr zur See Mit dem noch lebenden, damaligen SchiffsFührer Dirk Cornelisen aus Westerland, und ertrank beim Schiff Bruch im Meerbusen von Venedig. An der Küste vom Brundisse. Alt 17 Jahr ÷ 12 Tage." Oder unter dem 1. März 1833: "Christian Hans Christiansen. Weil. Hans Christiansen in Archsum u. Maiken, geb. Jens Bohn, ehel. Sohn. Er fuhr zur See mit Kapit. Jens Jürgen Lorenzen aus Keitum u. starb in St. Thomas. Unverheirathet. Alt 20 Jahre 3 Monate ÷ 5 Tage".

Der Umgang mit solchen Strandleichen war höchst unterschiedlich. Es kam vor, dass angeschwemmte Strandleichen provisorisch und ohne Kennzeichnung in der Nähe des Fundortes in den Dünen vergraben wurden. Umgekehrt gesagt: Man billigte ihnen häufig keine reguläre Bestattung auf einem Friedhof zu. Dieser aus Sicht des bürgerlichen Zeitalters wenig schickliche Umgang mit Strandleichen hatte unterschiedliche Gründe: Zum einen wusste man nicht, ob es sich bei den angeschwemmten Toten um christlich Getaufte handelte. Nach christlicher Tradition konnten nur diese auf den kirchlichen Begräbnisplätzen beigesetzt werden. In anderen Fällen handelte es sich um ein so genanntes "unehrliches" Begräbnis und verlangte grundsätzlich eine Beisetzung außerhalb des Friedhofes. In der Praxis allerdings wurde dies auch anders gehandhabt. Gerade wenn es sich um Einzelfälle handelte, fanden solche Beisetzungen nicht selten in entlegeneren Ecken des Kirch- oder Friedhofs statt.

Westerland
Blick in den Westerländer Namenlosen-Friedhof. Foto: N. Fischer

Zum anderen spielte das Strandrecht eine besondere Rolle: Zwar gab es bereits seit dem Mittelalter an der territorial vielfältig aufgesplitterten Nordseeküste regionale Strandungsordnungen, die das Vorgehen bei einem Schiffbruch regelten und die Anteile am Bergegut festlegten. Aber Strandräuber ignorierten immer wieder staatliche Rechtsauffassungen und praktizierten einen wenig pietätvollen Umgang mit angeschwemmten Schiffbrüchigen. Die Überlieferung berichtet auch von Totschlag und das Verscharren von Toten, um an Bergegut zu gelangen.

Dies änderte sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts: Die Bestattung namenloser Strandleichen unterlag einem fundamentalen Wandel, denn nun wurden besondere Friedhöfe für Strandleichen angelegt. Ein bis heute erhaltenes, berühmtes Beispiel bietet Westerland. Bezeichnenderweise war die Einrichtung des Westerländer Namenlosen-Friedhofs historisch eng verknüpft mit dem aufkommenden Seebäder-Tourismus auf Sylt. Gerade auf Sylt standen die ehrgeizigen Seebad-Ambitionen im Konflikt mit der verbreiteten Wahrnehmung nordfriesischer Insulaner als pietätlose Strandräuber. Dies wurde noch 1858 von dem Altonaer Mediziner Gustav Ross in einer Reisebeschreibung vermerkt und bezog sich auf die oben beschriebene, den Ansprüchen bürgerlicher Pietät im 19. Jahrhundert keineswegs genügende Bestattung unbekannter Strandleichen. Auch hygienische Aspekte waren zunehmend in den Vordergrund gerückt.

So bedeutete der 1854 eingerichtete Namenlosen-Friedhof in Westerland auf Sylt eine Wende. Angeschwemmte unbekannte Toten wurden nunmehr auf diesem besonderen Platz am Rand der Dünen bestattet. Die einzelnen Gräber wurden mit Holzkreuzen versehen, die das Datum des Fundes sowie den betreffenden Strandabschnitt nennen. Historische Fotos aus dem 19. Jahrhundert zeigen die allmähliche Entwicklung des Namenlosen-Friedhofes.

Zunächst lag der Begräbnisplatz noch relativ weit entfernt von der Bebauung Westerlands, doch diese rückte – wie die historischen Aufnahmen zeigen – allmählich immer näher. Die Anlage war abwechselnd von einem Erdwall und einer Mauer umgeben. Die Holzkreuze auf den Fotos weisen Pflanzen- und Blumenschmuck auf. An den Bestattungen auf dem Westerländer Namenlosen-Friedhof nahm ein Pastor teil, der dafür ein Entgelt aus der so genannten Landschaftskasse erhielt. Am 2. September 1888 wurde ein bis heute erhaltener Gedenkstein feierlich eingeweiht. Diesen hatte die rumänische Königin Elisabeth gestiftet, die unter ihrem Künstlernamen Carmen Sylva in der zeitgenössischen Öffentlichkeit als Dichterin bekannt war. Der Gedenkstein enthält Verse des preußischen Oberhofpredigers und Generalsuperintendenten Rudolf Kögel aus dem Gedicht "Heimath für Heimathlose". Letzterer Titel zierte auch schon frühzeitig – wie heute noch – die hölzerne Eingangspforte. Die letzte Beisetzung auf dem Westerländer Namenlosen-Friedhof fand im Jahr 1905 statt. Heute ist die Anlage zur Touristenattraktion geworden. Im Anschluss an die letzte Beisetzung wurden Strandleichen künftig auf den regulären Inselfriedhöfen von Sylt beigesetzt.

Namenlosen-Bestattungen
Namenlosen-Bestattungen auf dem Neuen Friedhof Westerland. Foto: N. Fischer

Auf dem Neuen Westerländer Friedhof wurde zu diesem Zweck ein eigener Platz eingerichtet und ein Gemeinschaftsdenkmal gesetzt. Seit 1907 haben hier unbekannte Tote von den Stränden Westerland und Rantum ihre letzte Ruhe gefunden.

Am 20. September 1865 war übrigens auf Sylt ein weiterer Strandleichen-Friedhof eingerichtet worden – im Listland im Norden der Insel. Er diente der Bestattung jener Leichen, die am Lister Strand und nördlich von Kampen angeschwemmt wurden. Aber dieser Namenlosen-Friedhof wurde nach anhaltenden Streitigkeiten mit der Regierung über die Trägerschaft im Jahre 1891 bereits wieder geschlossen.

Anmerkung der Redaktion: Beim vorliegenden Text handelt es sich um eine überarbeitete und gekürzte Fassung eines Manuskriptes für folgendes, in Kürze bei der Verlagsgruppe Husum erscheinendes Buch: „Friedhof am Meer: Der St.-Severin-Kirchhof in Keitum und der Tod auf Sylt“ (Hrsg.: Norbert Fischer, Julia Helbig, Stefanie Pfaff, Sina Sauer und Claudia Schmidt).

Auflistung alle Artikel aus dem Themenheft Insel, Tod und Trauer (November 2015).
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